Traditionsladen:"Ohne dich ist das nix, Mama"

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Nach fast 44 Jahren schließen Chariklia Ekizoglou und ihr Sohn Anastasious ihren griechischen Obst- und Gemüseladen. An der Donnersbergerstraße in Neuhausen reißt das die nächste Lücke

Von Sonja Niesmann, Neuhausen

Er muss einfach noch einmal so richtig zuschlagen. Eine Schale ist schon voll mit vegetarischer Moussaka, eine üppig mit Keftedes, Fleischbällchen, und Feta bestückt, aber der Stapel vor der Kasse türmt sich höher und höher. "Ich hoffe, Sie haben's nicht eilig?", entschuldigt sich der ältere Herr bei einer Kundin hinter ihm und wendet sich dann wieder dem Mann mit den schwarzen Schneckerlhaaren, dem türkisblauen Hemd und der dunkelblauen Trägerschürze hinter der Theke zu. Noch vier gefüllte Weinblätter bitte, weiße Bohnen und schwarze Oliven, ach ja, und ein Fladenbrot... "Ein letztes Mal, es ist dramatisch", klagt er, während er all seine Schalen und Schälchen sorgsam in einen Rucksack bettet.

Anastasious Ekizoglou an der Theke. (Foto: Florian Peljak)

Anastasious Ekizoglou hat viele solche Szenen in den vergangenen Tagen erlebt. "Die Kunden kaufen wie verrückt", ständig muss die Imbiss-Theke nachbefüllt werden, gerade schleppt Chariklia Ekizoglou die nächste Auflaufform noch dampfender Moussaka aus ihrer winzigen Küche nach vorne in den Laden. Es ist ja auch ein letztes Mal, ein Abschied für immer. An diesem Samstagabend schließen Anastasious und seine Mutter ihren griechischen Obst-und Gemüseladen an der Donnerbergerstraße 36. Nach fast 44 Jahren. Nächste Woche noch ausräumen, putzen, den Schlüssel übergeben - das war's dann. Es reißt die nächste Lücke in dieser Straße, die einmal zu den pulsierendsten Einkaufsmeilen des Viertels zählte. Von einst drei Obstgeschäften in dieser Straße wird dann noch eines übrig sein. Einziehen soll, haben sie vom Hauseigentümer gehört, ein Friseur, ein Büro, eine kleine Boutique oder ein Café mit kalter Küche.

Alles hausgemacht: Bei den Kunden ist der Jammer groß, dass das Geschäft geschlossen wird. (Foto: Florian Peljak)

Schuld hat in diesem Fall kein böser Vermieter, keine ins Exorbitante steigende Ladenmiete. "Mama wird 70, sie arbeitet seit 45 Jahren, und es war mein Wunsch, dass sie aufhört", erklärt der 44-Jährige den Entschluss. Er hätte ja weitermachen können, sagt die Frau mit dem hinter die Ohren geschobenen dunklen Haar, der man ihr Alter nicht ansieht, "er wollte doch nie etwas anderes als diesen Laden". Schon als Grundschulkind hat er fast jeden Tag mitgeholfen. "Er war gut in der Schule, er hätte studieren können", wie seine Brüder, der eine Informatiker, der andere Betriebswirt. Aber er wollte im Laden arbeiten, trotz 16-Stunden Tag, frühem Aufstehen für die Fahrt zur Großmarkthalle, abendlichem Aufräumen nach Ladenschluss um 20 Uhr.

Die Köchin all der Köstlichkeiten, Chariklia Ekizoglou, und ihr Sohn Anastasious. (Foto: Florian Peljak)

Aber nun macht er nicht weiter. "Ohne dich ist das nix, Mama." Denn ohne die Theke mit all den hausgemachten kalten und warmen Gerichten von Chariklia, ihren Cremes und Aufstrichpasten, nur mit dem Verkauf von Obst und Gemüse kann man - da ist er absolut sicher - als kleiner Einzelhändler nicht überleben, in einer Zeit, in der vor allem junge Menschen Einkauf und Essen zunehmend übers Internet und Lieferdienste abwickeln.

Vor 20 Jahren, noch niemand sprach da von Essen "to go", haben die Ekizoglous diese Imbiss-Nische besetzt und sind damit lange gut über die Runden gekommen. Bis vor etwa acht Jahren die Donnersbergerstraße anfing, "schwach" zu werden, wie Anastasious es formuliert, "sehr schwach". Zwei Metzgereien zum Beispiel machten zu, ein Blumengeschäft, eine Apotheke, dann das Schuhhaus Raab, das immer noch leer steht - viele Menschen, die rund um den Rotkreuzplatz einkaufen, sind die Donnersbergerstraße eben nicht mehr hochgelaufen. Die Umsätze brachen ein, "da haben wir das Kochen noch intensiviert", erinnert er sich, zum Entzücken ihrer Kunden, die hier nicht nur ein schnelles Mittag- oder Abendessen eintüten können, sondern sich auch ihrer Griechenland-Sehnsucht, ihren Erinnerungen an schöne Abende in kleinen Tavernen hingeben können.

44 Jahre ein vertrauter Anblick, bald vorbei. Und wieder wird sich die Donnersbergerstraße verändern. (Foto: Florian Peljak)

Nicht nur einmal sind Mutter und Sohn gefragt worden, warum sie denn kein Restaurant eröffnen. Danke, das haben sie schon hinter sich. Mitte der 1970er Jahre hat die Familie Ekizoglou, die im Westend ansässig ist, dort eine bayerische Gaststätte übernommen und sie nach einigen Jahren in eine griechische Kneipe, das "Stoa", umgemodelt. Aber Geschäft und Lokal - das war zu viel Stress, obwohl die ganze Familie mitangepackt hat. 1989 haben sie das Stoa abgegeben. Immerhin, merkt die Mutter sehr zufrieden an, "meine Söhne haben von klein auf gelernt zu arbeiten".

Ganz den Rücken kehren wird der 44-Jährige den griechischen Spezialitäten nicht, er will einen Import aufziehen, für den Großhandel und Restaurants. Möglicherweise aber macht er auch noch etwas ganz anderes, ganz woanders. "Das Wandern ist vielleicht bei uns im Blut", lächelt er. Die Großeltern, die in der Gegend von Smyrna (Izmir) lebten, mussten ihre Heimat verlassen, damals nach dem Ersten Weltkrieg, als 1,5 Millionen an der kleinasiatischen Küste ansässige Griechen nach Griechenland ziehen, im Gegenzug hunderttausende muslimische Türken ihre griechische Heimat verlassen mussten. Es war eine Zwangsvertreibung in großem Stil, die euphemistisch "Bevölkerungsaustausch" genannt wurde. Die nächste Generation der Ekizoglous zog hinaus in die Welt, nach USA, Kanada, Australien. Chariklia, die in einer kleinen Stadt in der Nähe von Saloniki aufgewachsen ist, kam nach München, vor nunmehr 50 Jahren. "Gehen Sie denn jetzt zurück nach Griechenland?", will eine Kundin wissen. Nein, wird sie nicht, die Söhne, die Enkelkinder (der Mann ist 2000 gestorben) leben doch alle hier.

Auf die Zeit nach dem Schnippeln, Brutzeln und Rühren von morgens bis abends freut sich die fast 70-Jährige, "einerseits. Aber es ist auch traurig." Bislang haben die beiden eher ohne erkennbare Emotionen über diese Zäsur in ihrem Leben gesprochen, mit Ausnahme des nachdrücklichen Dankes an alle, die bei ihnen gekauft haben. Als aber eine Stammkundin in den Laden stürmt, mit einem Blumenstrauß, Chariklia um den Hals fällt und ruft "Ich werd' euch so vermissen!", ist es vorbei mit der Beherrschung. Sie wischt ein paar Tränen weg, er blinzelt heftig. Die Kundin freilich schaltet um von Rührung auf Pragmatismus: "Gell, euer Rezept für die Keftedes brauch' ich noch." Die Köchin diktiert, sie notiert - und seufzt dann resigniert. "Mei, so gut wie ihr werd' ich's eh nie hinkriegen."

© SZ vom 21.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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