Thalkirchen:Grenzwertige Zuneigung

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Ein Spaziergang an der Isar zeigt die schönen, aber auch die Schattenseiten der Renaturierung. Die Stadt werde, meint die Ökologin Julia Rahn, um ein schärferes Durchgreifen nicht herum kommen

Von Jürgen Wolfram, Thalkirchen

Fragte man den ehemaligen Oberbürgermeister nach dem dicksten Lob für seine Stadt, musste Christian Ude nicht lang überlegen: Bürger und Besucher Münchens rühmten vor allem die Renaturierung der Isar. Was sich in den Jahren 2000 bis 2011 auf den acht Flusskilometern zwischen Großhesselohe und dem Deutschen Museum getan hat, begeistert die Leute bis zum heutigen Tag. Ihre wiederentdeckte Liebe zur Flusslandschaft inmitten der Millionenstadt entwickelt sich so flamboyant, dass sie allmählich zum Problem wird. Stichwort: Übernutzung. Grillverbotsschilder weisen neuerdings alle paar hundert Meter auf die Gefahr hin. Die Ökologin Julia Rahn spricht von unwillkommenen "Nebeneffekten der Renaturierung". Bei einer Exkursion zwischen Tierparkbrücke und Marienklause zeigte sie Zusammenhänge einer veränderten Flussnatur auf, die Laien sonst eher verborgen bleiben. Veranstalter des informativen Ausflugs mit etwa 50 Teilnehmern waren die SPD-Ortsvereine des Stadtbezirks 19. Sie machen Politik seit längerem nicht mehr nur in Sitzungssälen, sondern gern auch mal an relevanten Schauplätzen.

Renaturierung, das ist so ziemlich das glatte Gegenteil von dem, was die Menschen vor 150 Jahren mit ihren Flüssen anzufangen wussten. Zwar stand damals wie heute der Hochwasserschutz im Vordergrund. Doch erwehrt man sich der Bedrohung längst nicht mehr durch Begradigung und Betonverbauung, sondern mit Deicherhöhungen, Spundwänden, Überflutungsflächen und Sohlrampen. "Sanfter Wasserbau" heißt das unter Experten. 35 Millionen Euro sind in München für solche Maßnahmen ausgegeben worden, sieben Millionen mehr als ursprünglich kalkuliert. Das Plus sei wegen übersehener Altlasten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs aufgelaufen, berichtet Julia Rahn. Bei den Arbeiten habe man unter anderem vier große Fliegerbomben, etliche kleinere Sprengkörper und jede Menge Schutt zutage gefördert.

Auf einer Exkursion zwischen Tierparkbrücke und Marienklause erfahren die Teilnehmer viel über die Renaturierung. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Gründlich korrigiert worden ist die künstliche Eintiefung des Flussbetts durch Buhnen, mit der einst die Befahrbarkeit für Flöße verbessert werden sollte. Der Gütertransport rollt heute bekanntlich auf Schienen und Straßen, es verschwanden also überflüssige Relikte. An ihre Stelle traten neue Kiesbänke. Kein Geheimnis: Bei der Wiederherstellung des Wildflusscharakters ist der Interessenausgleich mit den Betreibern der Wasserkraftwerke eine Hürde gewesen. "Man sollte sich keine Illusionen machen, es ging nicht nur um Aspekte des Naturschutzes. Letztlich basiert die Renaturierung auf einem Kompromiss, aber der funktioniert ganz gut", kommentiert Rahn. Einiges sei erreicht worden im Zuge der Erneuerung langfristiger Konzessionsverträge für die Energiewirtschaft, wie etwa die Erhöhung von Restwassermengen für den Fluss. Der Druck wacher Umweltschutzorganisationen und eine kluge Moderation des Wasserwirtschaftsamtes München hätten dazu beigetragen.

Zu den positiven Effekten der Renaturierung zählt die Expertin die Rückkehr der früheren, voralpinen Flora und Fauna ins Zentrum der Stadt. Äsche und Regenbogenforelle, zwei Stammfischarten des Münchner Isarabschnitts, fühlten sich wieder wohl. Zugleich beklagt Rahn neue Sünden, wie die rigorose Ausdünnung der Weidenbüsche an den Ufern. Faltern und Vögeln fehle deshalb der Unterschlupf, punktuell verursache der Übereifer städtischer Vertragsfirmen bereits ein "ökologisches Desaster". Dazu trage auch ein Teil der Besucher bei, der haufenweise Dreck am Fluss zurück lasse, durch Bodenfeuer Lebewesen vernichte und generell nicht begreife, mit welch einem Kleinod der Natur man es zu tun habe. An schönen Sommerwochenenden des vergangenen Jahres seien Müllmengen angefallen wie früher, als der Fluss noch nicht so attraktiv war und München weniger Einwohner hatte, in einem ganzen Jahr. "Seit 2011 gibt es massive Probleme", sagte Julia Rahn. Nicht zuletzt gefährdeten unvernünftige Mountainbiker wertvolle Biotope. Um ein schärferes Durchgreifen werde die Stadt in Zukunft nicht herum kommen, prophezeite sie. "Goodwill allein reicht nicht mehr."

"Es gibt nichts Lebendigeres als Totholz": Julia Rahn kann viel erzählen und zeigen, was Laien sonst eher verborgen bliebe. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Dass sich die Isar bei Hochwasser auch nach der Renaturierung in eine Gefahrenquelle ersten Ranges verwandeln kann, demonstriert die Referentin an der Marienklause. Wasserwalzen und tückische Strömungen haben hier wiederholt Todesopfer gefordert. Oft genug war Leichtsinn im Spiel. Die vorbildlich präsente Wasserwacht habe in diesem Bereich "einen schwierigen Job". Ein wenig Nachhilfe in Biologie erhielten die Teilnehmer des Isar-Spaziergangs schließlich auch noch. Rahn: "Es gibt nichts Lebendigeres als Totholz."

© SZ vom 02.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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