Starnberg:Die Freiheit riecht nach Sägespänen

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Marcel Diewald-Sperrlich ist im Zirkus Rio groß geworden, eines Tages wird er das Familienunternehmen leiten.

Andrea Eibl

- Die Freiheit riecht nach Heu, Pferdestall und Sägespänen. Sie hat ein dunkelblaues Dach mit Sternen und wandert von Ort zu Ort. Marcel Diewald-Sperrlich möchte sein Leben im Zirkus, seinen Alltag auf Rädern, mit niemandem tauschen. "Wenn ich morgens die Tür meines Wohnwagens aufmache und an der frischen Luft bin, ist das für mich Freiheit", sagt der 18-Jährige. Er ist Sohn der Zirkusfamilie Diewald-Sperrlich, im Zirkus Rio aufgewachsen und ein unstetes Wanderleben gewöhnt.

Ein Alltag mit festem Wohnsitz ist für ihn kaum vorstellbar. Schon als Kind hat er gelernt Messer gegen Wände zu schleudern, ohne dass sein Partner dabei verletzt wird, mit Feuer zu jonglieren oder den Clown zu mimen. "Kinder lernen das leichter als Erwachsene, einfach spielerisch", sagt er und ruft seinen Neffen Ramon, der zwischen den Zuschauerreihen im Zelt herumhüpft. Mit einem Schwung landet dieser im Handstand und lässt sich mühelos von Marcel in dieser Pose auf Schulterhöhe stemmen. Erwachsene wägen vorsichtig ab, während sich Kinder nicht davor scheuen, etwas Neues auszuprobieren, meint Marcel.

Seit er sich erinnern kann, tourt er mit seiner Familie und dem Zirkus Rio durch den Landkreis, gastiert mal in Tutzing, mal in Gauting und am Liebsten dort, wo sich der Zirkus einen Namen gemacht hat. Jedes Familienmitglied hat einen Wohnwagen, seine eigenen vier Wände auf Rädern. Dazu gibt es in der Siedlung, die sich um das Zelt gruppiert, einen Wagen mit Bad und einen Gemeinschaftsraum. Das dunkelblaue Zirkuszelt, an dessen Decke silberne Sterne blinken, ist schlicht und lädt dennoch zum Eintauchen in eine fremde Welt ein. Ihr will Marcel treu bleiben, sie ist sein Zuhause. Eine Schule hat er nie besucht, stattdessen viele verschiedene. Alle zwei Wochen stand er einer neuen Klasse gegenüber. Neue Gesichter, neue Namen. "Ich konnte mir oft nicht merken, wie meine Klassenkameraden heißen", sagt er. In regelmäßigen Abständen kam er dann zurück zu den bekannten Gesichtern, die zwar wussten wer er war, aber deren Namen er bereits vergessen hatte. Die einzige Kontinuität in seiner Schulzeit war das Tagebuch. In das trugen die Lehrer der jeweiligen Station ein, was er dort alles gelernt hatte, damit der Lehrer der nächsten Schule wusste, was Marcel schon können muss. Etliche Male wurde er so ins kalte Wasser geschmissen. Da hatte man gerade in Mathe etwas verstanden und schon landete man wieder auf einer anderen Klasse, die anderen Stoff durchnahm. Nur einmal hat der heute 18-Jährige längere Zeit sein Nomadenleben unterbrochen und an einem Ort gewohnt. Zwei Jahre vor dem Quali zog er ins Münchner Kindl-Heim und besuchte die Hauptschule. Am Anfang sei das Internatsleben nicht sein Ding gewesen, er musste sich erst daran gewöhnen immer am selben Ort aufzuwachen.

Um das Leben im Zirkus ranken sich viele phantastische Mythen, aber in Wirklichkeit ist es ein knochenharter Job. Jeder in der Familie muss sich um alles kümmern, die Zuckerwatte-Maschine bedienen können und sich zugleich mit Pferden auskennen. Die Schilder über dem Eingang auf denen in roter Schrift Zirkus Rio steht, sind selbst gemalt. Marcel hat sie mit der Säge ausgeschnitten und mit dem Schriftzug versehen. Doch diese ganzen praktischen Fertigkeiten sind auch von Vorteil. In der neunten Klasse machte Marcel ein Praktikum beim Bayerischen Rundfunk in Freimann. Er arbeitete beim Fernsehen, kümmerte sich mit den Ton- und Bildtechnikern um den Aufbau. "Die staunten nicht schlecht, als ich vieles einfach so schon konnte. Zupacken kann ich und alles was mit Show zu tun hat, liegt mir im Blut", erzählt er ein wenig stolz. Kurze Zeit hatte er sich tatsächlich überlegt, nach der Schule eine Ausbildung zum Rundfunktechniker zu machen. Doch der Zirkus lässt ihn nicht los. Er hatte die Wahl, zwischen einem Angestelltenverhältnis mit festem Gehalt und der Arbeit in der Manege. Hier hängen die Einnahmen von der Besucherzahl ab und schwanken natürlich.

In der Manege pendelt ein dickes Seil von rechts nach links: Leon, Marcels kleiner Bruder, hängt daran wie Tarzan und schwebt durch die Manege. Eigentlich führt Marcels Schwester Lavinia am Seil ihre Kunststücke vor. Die fünf Kinder haben alle ihre eigenen Nummern. "Meine Familie hat das Geschäft aufgebaut, es gehört uns", sagt Marcel. Vor sechs Jahren hatte sein Vater einen schweren Verkehrsunfall seitdem hat er Probleme mit den Beinen. Damals gastierte der Zirkus in Tutzing und viele Zuschauer halfen der Familie mit Spenden. Nicht zuletzt deswegen will Marcel Diewald-Sperrlich dem Zirkus treu bleiben. Von Generation zu Generation wurde das Traditionsunternehmen weitergeführt. Sogar vor Friedrich II. in Sanssouci sollen die Vorfahren schon aufgetreten sein. Noch heute betreiben viele Verwandte von Marcel ihren eigenen Zirkus und sogar die Schausteller vom Oktoberfest kommen hin und wieder im Zirkus Rio vorbei. "Auf der Reise kennen sich eben Gott und die Welt", sagt Marcel.

© SZ vom 25.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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