Fünfseen-Filmfestival:Tödlicher Himbeersaft

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Einer fehlt: Schauspielerin Eva Mattes und Regisseur Kai Wessel bei der Debatte mit Moderatorin Sylvia Griss (Mitte). (Foto: Arlet Ulfers)

Eva Mattes und Kai Wessel diskutieren in Tutzing über "Menschen am Rande der Gesellschaft"

Von Gerhard Summer, Tutzing

István Szabó kommt, aber nur als Zuhörer. Offenbar hat der ungarische Regisseur nicht gewusst, dass bei der Filmdebatte in der Politischen Akademie Tutzing das Fernsehen dabei ist, und zieht zurück, weil er sein ausgezeichnetes Deutsch für nicht sendereif hält. So jedenfalls die offizielle Begründung.

Ein Jammer. Immerhin ist der Oscar-Preisträger und Ehrengast des Fünfseen-Filmfestivals ein Mann mit großer Erfahrung, der noch dazu pointiert und unaufgeregt redet. Und das Thema des Nachmittags "Am Rande der Gesellschaft" spielt gerade in etlichen seiner Filmen eine große Rolle. Sei's drum, die verbliebenen Drei auf der Bühne tun ihr Bestes, vergessen zu machen, dass Szabo bei diesem Diskurs dabei sein sollte: Schauspielerin Eva Mattes glänzt, Regisseur Kai Wessel ("Das Sommeralbum", "Goebbels und Geduldig", "Nebel im August") argumentiert ruhig und besonnen, und Sylvia Griss ("Capriccio", "TTT") moderiert elegant. Eines der Resümees: Der Umgang mit Behinderten in diesem Land ist immer noch hochproblematisch. Was die Nazis staatlich zu regeln versuchten, "lösen wir jetzt demokratisch" und "überlassen es den einzelnen Familien", sagt Wessel, auch wenn das jetzt hart klinge und er sich auf dünnem Eis bewege.

Vielleicht ist es ja nur eine Sache der Definition, aber bald kommt bei der Debatte im gut besetzten Auditorium des Hauses die Frage auf, ob im Grunde nicht jeder ernstzunehmende Film von Menschen am Rande handelt, wie Wessel sagt. Eva Mattes, dem zweiten Ehrengast des Filmfestivals, fällt auf, wie sehr sie selbst mit diesem Thema über all die Jahre beschäftigt war. Als sie mit 15 anfing, "war ich der richtige Typ zur richtigen Zeit", sagt sie. Und: Sie wollte immer mit guten Leuten arbeiten, sei es mit Michael Verhoeven, Rainer Werner Fassbinder oder Franz Xaver Kroetz. 1970 war sie die Phan Ti Mao in Verhoevens Abrechnung mit dem Vietnamkrieg, "o.k", der zum Rücktritt der Berlinale-Jury und zum vorzeitigen Ende des Filmfestivals führte. Zu ihren jüngsten Entdeckungen gehört das Theater "RambaZamba" aus Berlin. Im Ensemble sind Schauspieler und bildende Künstler mit Down-Syndrom, von deren Empathie jeder nur lernen könne. 2016 stand "Der gute Mensch von Downtown" auf dem Spielplan, Mattes gab eine Mischung aus Erzengel und Vogelwesen. "Ich kann gar nicht sagen, wie großen Spaß es macht, mit denen zu spielen."

Wessel wiederum, der Mattes und deren Tochter Hanna für seinen zweiten Film "Sommeralbum" besetzt hatte, berichtet von seinem Drama "Nebel im August" nach dem gleichnamigen Roman von Robert Domes. Die Geschichte dreht sich um die Klinik Kaufbeuren-Irsee und das grauenhafte Euthanasieprogramm der Nazis. Kinder werden mit Barbituraten umgebracht, die in Himbeersaft aufgelöst sind. Der 14-jährige Ernst Lossa lehnt sich auf gegen den Irrsinn, er kommt am Ende selbst auf die Todesliste. 200 000 bis 300 000 Menschen seien im Dritten Reich euthanasiert worden, sagt Wessel. Heutzutage bleibe es den Familien überlassen, wie sie mit Ungeborenen umgehen, bei denen Behinderungen diagnostiziert werden. Bei Kindern mit Down-Syndrom liege die Abtreibungsquote bei 90 Prozent. Wenn man also eines Tages zehn Menschen mit Down-Syndrom gegenüberstehe, sei klar: Eigentlich müssen da 100 junge oder ältere Leute stehen.

Ob die Schauspielerin und der Regisseur ein Herzensprojekt haben, fragt Sylvia Griss am Ende. Kai Wessel will keine konkrete Geschichte nennen, "die sind alle geheim". Er sagt: Ihm gehe die Angstgesellschaft auf die Nerven, er vermisse Mut und Entschlossenheit.

© SZ vom 02.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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