Stammstrecke:Kurzschluss im Tunnel

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Bahn-Mitarbeiter zeigen die Jacke, die den Kurzschluss ausgelöst hat. (Foto: Stephan Rumpf)

Eine Strickjacke auf dem Dach einer S-Bahn beschädigt die Oberleitung und legt die gesamte Stammstrecke lahm. Es dauert Stunden, bis die Techniker die Ursache finden.

Von Marco Völklein, München

Gegen 11 Uhr hält ein Bundespolizist das Corpus Delicti in den Händen. Blaue Plastikhandschuhe hat er sich angezogen, gleich wird er die schwarze Strickjacke in eine weiße Plastiktüte stecken. "Sichergestellt" sei die Jacke, sagt der Beamte noch, als Beweisstück. Schließlich ermittelt die Behörde wegen "gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr". Dann verlässt er zusammen mit zwei Kolleginnen den Bahnsteig am Isartor. Zurück bleibt Erich Brzosa, der für das Netz der S-Bahn zuständige Manager der Deutschen Bahn. Der muss nun erklären, was genau vorgefallen ist. Was den Zusammenbruch des S-Bahn-Netzes am Dienstagmorgen verursacht hat. Und warum es mehr als sechs Stunden gedauert hat, bis die Züge wieder einigermaßen regelmäßig fuhren.

Eine entscheidende Rolle dabei spielt die Strickjacke, welche die Bundespolizisten gerade mitgenommen haben. Wobei erst gegen 11 Uhr klar ist, dass sie den Schlamassel ausgelöst hat. Los geht das ganze Chaos schon gegen 6.30 Uhr mit einem Kurzschluss in der Oberleitung über dem Gleis, das vom Ostbahnhof zur Hackerbrücke führt. Dieser Kurzschluss hat verheerende Folgen: Zum einen schaltet sich die Stromzufuhr sofort ab. Zum anderen klappen sämtliche S-Bahnen, die gerade in dem Abschnitt unterwegs sind, sofort ihre Stromabnehmer ein. Das soll Schäden an den Fahrzeugen verhindern. Zu diesem Zeitpunkt ist nur klar: Die Stammstrecke ist dicht. Auf unabsehbare Zeit.

S-Bahn München
:Herumfliegende Jacke löst Sperrung der Stammstrecke aus

Die Bahn hat geklärt, wie es zum Chaos im Münchner S-Bahn-Netz kam. Inzwischen ist die Sperrung aufgehoben, die Auswirkungen werden aber bis weit in den Nachmittag zu spüren sein.

Bevor die Techniker der Bahn, laienhaft ausgedrückt, die Stromzufuhr wieder einschalten können, müssen sie prüfen, was vorgefallen ist. Sie müssen die Ursache für den Kurzschluss finden. Und sie müssen schauen, ob die Oberleitung selbst womöglich beschädigt ist: Wurde durch die enorme Hitze vielleicht der Fahrdraht so weit runtergebrannt, dass der Durchmesser unter eine kritische Grenze gerutscht ist? Also machen sich Techniker im Untergrund auf die Suche.

Sie beginnen damit aber am falschen Ende des Tunnels, wie sich später herausstellen wird. Denn gleichzeitig mit dem Kurzschluss hat ein Lokführer am Hauptbahnhof gesehen, wie über einer vor ihm fahrenden S-Bahn die Oberleitung zunächst stark schwankte - und sich dann ein Lichtbogen entwickelte. Deshalb gehen die Bahn-Leute zunächst davon aus, dass die Ursache am Hauptbahnhof zu suchen ist.

Von Westen her arbeiten sie sich durch den Tunnel gen Osten vor, zu Fuß, Abschnitt für Abschnitt. Zunächst finden sie nichts. Fachleute werden angefordert, ein gelber "Turmwagen" zur Inaugenscheinnahme der Oberleitung in den Tunnel beordert. Das alles kostet Zeit, viel Zeit. Während in den Bahnhöfen die Fahrgäste fluchen und versuchen, in die schon völlig überfüllten U- und Trambahnen auszuweichen. Erst am Isartor werden Brzosas Leute fündig: Offenbar hat außerhalb des Tunnels jemand eine schwarze Strickweste auf eine S-Bahn geworfen. Diese war im Tunnel aufgewirbelt worden und hatte dort, auf Höhe der Station Isartor, den Kurzschluss ausgelöst, vermutet Brzosa. Brandspuren auf dem Zugdach deuteten darauf hin. Schließlich ziehen Bahn-Mitarbeiter mit einer Diesellok die havarierte S-Bahn aus dem Tunnel, Techniker prüfen mit ihrem Turmwagen noch, ob der Draht am Isartor Schaden genommen hat. Gegen 12.30 Uhr geben sie die Strecke wieder frei.

Die Kritik an der Bahn aber ist da noch lange nicht verstummt. Viele Fahrgäste schimpfen auf die erneute Panne - schließlich kommt es immer wieder zu Problemen mit der Oberleitung. Der Fahrgastverband Pro Bahn sieht darin sogar "ein klares Indiz für den fortschreitenden Infrastrukturverfall an dieser zentralen Strecke". Der Freistaat müsse den Konzern dazu zwingen, mehr in die Zuverlässigkeit der zentralen Strecke zu investieren. Der ehemalige Stadtrat Georg Kronawitter (CSU) fordert konkret, den Fahrdraht im Tunnel durch eine feste Stromschiene zu ersetzen.

Doch Bahnmanager Brzosa winkt ab: Eine Stromschiene würde zwar verhindern, dass die Oberleitung schwankt, räumt er ein. "Doch das war hier nicht das Problem." Den Kurzschluss, ausgelöst durch die Strickjacke, hätte auch die Schiene nicht verhindert, sagt er. Zudem sei die Oberleitung im Tunnel eh schon in relativ kurze Einspeiseabschnitte unterteilt, sodass bei einem Kurzschluss nicht noch weit größere Bereiche ausfallen. "Auch das hat uns geholfen", sagt Brzosa.

© SZ vom 07.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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