Fußball:Zweite Kindheit

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Lothar Firlej wuchs in einem Waisenhaus auf, der 53-Jährige organisierte die Straßenfußball-WM und war Abteilungsleiter der FT Starnberg. Seit 2012 hilft er armen Kindern in Kenia - durch Sport

Von Sebastian Winter, München

Es ist kurz vor Weihnachten in Juja, einer Stadt im kargen Hochlandgebirge Kenias, 50 Kilometer nordöstlich von Nairobi. Und es ist heiß. 30 Grad, kaum Wind. Während hierzulande der verspätete Winter Einzug hält, steht dort der Hochsommer bevor. Auch auf 1600 Metern über dem Meeresspiegel. Lothar Firlej findet diese Hitze lähmend, die Sonne, die ohne Unterlass vom Himmel brennt, zumal am Äquator. Er hat die Menschen hier, mittlerweile jedenfalls, verstanden. Ihr Lebensmotto besteht im Grunde aus einem Wort, polepole auf Suaheli, der Sprache Ostafrikas, am besten übersetzt mit: langsam, langsam. "Du wirst hier müde, ausgelaugt", sagt Firlej, "auch im Kopf". Es ist ein täglicher Kampf, neuen Antrieb zu finden in dieser flirrenden Luft. Firlej findet ihn.

Der 53-Jährige joggt, wie jeden Morgen, 45 Minuten durch den Staub. Aber nur auf dem Areal der ansässigen Universität, dort wird er nicht von Männern mit Eisenstangen bedroht, wie schon einmal. Firlej war anfangs etwas naiv, er war auch mal alleine mit seinem Mountainbike losgefahren, runter zum Fluss, es war keine gute Idee gewesen, die Jugendlichen dort, viele arbeitslos, ohne Perspektive, rannten auf ihn zu. Wer weiß, was sie wollten, vielleicht nur sein Rad, jedenfalls sah Firlej in ihren Blicken, dass es nun besser ist zu verschwinden. Das sind die dunklen Seiten an diesem grellen Ort. Firlej geht auch nicht abends auf die Straße, keine Kneipenbesuche mit Freunden, kein Kino. Nach Nairobi fährt er nur mit Begleitschutz. Er sagt: "Es war ein Sprung ins kalte Wasser."

Start in eine bessere Zukunft: Zum Beispiel mit einer Leichtathletik-Stunde. (Foto: oh)

Firlej hat seine Zelte in Starnberg 2012 abgebaut, wo er Fußball-Abteilungsleiter der FT und Lehrer am Gymnasium war. Er hat München den Rücken gekehrt, wo der gebürtige Paderborner seinen Wehrdienst geleistet, als Vertriebler gearbeitet, mit 40 Jahren, ausgelaugt vom zehrenden Beruf, ein Sportstudium begonnen hat. Wo er im Hasenbergl Kinder betreute, deren Väter Drogen nahmen und deren Mütter sich prostituierten. Wo er die U-13-Fußballer von 1860 trainierte, 2006 die Straßenfußball-Weltmeisterschaft organisierte und sich im Waisenhaus an der Nymphenburger Straße ein paar Euro verdiente.

Das Waisenhaus ist der rote Faden in Firlejs Leben. 19 Jahre lang war es sein Zuhause in Paderborn, wo Firlej als sechstes und jüngstes Kind in eine Großfamilie geboren wurde, die Mutter psychisch krank, der Vater unbekannt. Firlej kam unmittelbar nach der Geburt in das Waisenhaus, Fremde wollten ihn adoptieren, er blieb bei den Ordensschwestern, weil sie ihn behüteten und umsorgten wie einen Schatz. Zu manchen hat Firlej heute noch Kontakt. Auch in Juja wohnt Firlej in einem Waisenhaus, mitten im Slum Gachororo: zusammen mit ehemaligen Kindersoldaten, Findelkindern, Aidswaisen, Flüchtlingsmädchen. "Ich fühle mich als ihr Vater und erlebe als Erwachsener meine zweite Kindheit."

Beim Müll-Sammeln. (Foto: oh)

Im Sommer 2012 ist er nach Juja gekommen, um zu helfen. Mit Sport. Durch Sport. Und Lothar Firlej schwimmt nach zweieinhalb Jahren ziemlich gut im kalten Wasser. Er war Direktor eines Berufsausbildungs-Zentrums für Jugendliche, half extrem armen Familien mittels Freunden und Gönnern, an Geld für die teure Schulausbildung zu kommen, und arbeitete bei einem großen Förderprojekt für Jugendliche in Nairobi. Mehr als 25 000 Kinder lernen dort an 17 Standorten, Straßenfußball zu spielen, und viel mehr: Sie sammeln Punkte, indem sie sich auch als Schiedsrichter einsetzen, andere Kinder betreuen oder Seminare besuchen. Die besten 300 Teilnehmer bekommen Geld für die teure Schulausbildung: 12 000 Kenia-Schilling pro Semester für Bücher, Uniform, Essen, umgerechnet 110 Euro. Ein Vermögen für ein Land, wo das jährliche Pro-Kopf-Einkommen kaum 700 Euro beträgt.

Doch Bildung ist der einzige Ausweg aus der Armut. Die Alternative? Firlej sieht dauernd Kinder, die Klebstoff inhalieren, um den Hunger zu stillen. Als er eines Tages eine Mutter von zwei Kindern in Gachororo besucht und in ihre Wellblechhütte geht, sieht er einen dunklen Raum ohne Fenster und eine bis auf die Knochen abgemagerte Frau, die auf einer von Ratten angenagten Matratze sitzt. Sie opfert sich für ihre Kinder, gibt ihnen ihr Essen und investiert das restliche Geld in die Schulgebühr. Firlej hätte heulen können, er sagt sich: "Ich darf niemals morgens aufwachen und das als Selbstverständlichkeit erachten."

"Ich darf niemals morgens aufwachen und das als Selbstverständlichkeit erachten." Lothar Firlej, 53, hat in seinem Leben viel Leid kennengelernt. (Foto: Catherina Hess)

Auch deshalb lebt der bekennende Christ in Demut. Ein paar Euro bekommt Firlej von Unterstützern in Deutschland, außerdem hat er im Frühjahr bei einem Europabesuch zwei Wochen auf dem Bau gearbeitet. "Von diesem Geld kann ich hier in Juja ein halbes Jahr leben." Firlej war nicht einfach so in Europa, sondern Teil einer Jugendgruppe aus Nairobi, die bei einem Fußballturnier in Amsterdam mitmachte. Er hatte die U14 drei Monate auf dieses Turnier vorbereitet, ihr Taktik und Technik beigebracht. Gegen den Nachwuchs der Tottenham Hotspurs, von Feyenoord Rotterdam und Ajax Amsterdam reichte es zwar nicht ganz, doch Firlejs Mannschaft wurde immerhin Achter im Zwölferfeld. Und die Kinder kamen mit leuchtenden Augen nach Kenia zurück. Es sind diese Momente, die auch ihn glücklich machen.

Vor etwas mehr als einer Woche schloss er den ersten Teil seines neuesten Projekts ab. "Make children strong - education through sport", heißt es, die Kinder sollen also durch Sport stärker werden und für das Leben lernen. Vier Tage sollte es dauern, doch Firlej verlängerte es auf eine knappe Woche, weil die Nachfrage überwältigend war. Mehr als 300 Schulkinder kamen, auf ihrem Stundenplan standen Tennis, Volleyball, Fußball, Rugby und Leichtathletik, aber auch: Respekt, Teamwork, HIV-Prävention, Hygiene und Müll sammeln. "Wir benutzen den Sport hier als Instrument", sagt Firlej, als Türöffner zu einem besseren Leben. Durch Sport sollen die Kinder selbstbewusster werden, den Fair-Play-Gedanken kennenlernen. In einem Land, in dem es auch viele Ungerechtigkeiten gibt.

Beim Fußballspielen. Lothar Firlej hat inmitten der ärmsten Kinder im Slum Gachororo in Kenia seine Berufung gefunden. (Foto: oh)

Firlej weiß, dass Schulkinder in Kenia während des Unterrichts geschlagen werden, mit harten Stöcken aus Bambusrohr, trotz der Null-Toleranz-Politik von Kenias umstrittenem Präsidenten Uhuru Kenyatta. Der Grund kann nur eine kleine Frage an den Lehrer sein, weil sie etwas nicht verstanden haben. "Sie zeigen mir ihre Wunden", sagt Firlej, der weiterhin in Juja bleiben möchte, sein Projekt voranbringen, trotz allem Leid für die Kinder. Oder gerade deswegen.

Weihnachten feiert er mit ihnen und Schwester Louisa im Waisenhaus, eine Ziege wird geschlachtet, wie es die Tradition will. Sie haben einen künstlichen Weihnachtsbaum, eine Krippe, einen Adventskalender. Auch der Nikolaus kam schon vorbei, eine gewisse Ähnlichkeit mit Firlej konnte er allerdings nicht verbergen. Und sogar ein Christkind haben sie: Mary heißt es, acht Monate alt, die überforderte Mutter war während der Messe einfach verschwunden und hatte ihr Baby auf der Kirchenbank zurückgelassen.

Es ist heiß, die Luft flirrt. Lothar Firlej hat in den zweieinhalb Jahren knapp zehn Kilo abgenommen durch Magen-Darm-Infektionen und andere Entbehrungen. Aber er freut sich jeden Tag, mit den Kindern zusammenzusein. "Ich habe mein Herz verloren an die Waisen", sagt Firlej. Er will auch Mary ein guter Vater sein.

© SZ vom 29.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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