Fußball:Der Künstler mit den Segelohren

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Einer großer Momente im Fußballerleben des Ernst Willimowski: Im Pokalfinale 1942 trifft der Stürmer im Berliner Olympiastadion zum 1:0 gegen Schalke. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Am 23. Juni wäre Ernst Willimowski 100 Jahre alt geworden, der Wunderstürmer, der für Polen und Deutschland Rekorde erzielte, 1860 München zum Pokalsieg schoss - und dennoch in Vergessenheit geriet

Von Thomas Urban

Wenn an diesem Donnerstag bei der EM in Frankreich die Mannschaften aus Deutschland und Polen aufeinandertreffen, erinnern sich die Fans an große Partien zwischen beiden Fußballnationen. Die "Wasserschlacht von Frankfurt" bei der WM 1974 etwa oder das märchenhafte 1:0 durch Oliver Neuville im Sommer 2006. Sie denken an Miroslav Klose oder Lukas Podolski, gebürtige Polen, die in Deutschland zu Volkshelden wurden. Sie denken eher nicht an: Ernst Willimowski. Dabei ist er Rekordhalter in beiden Teams: Keiner traf pro Einsatz öfter.

Eine Woche nach dem EM-Duell jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag des vergessenen "Wunderstürmers". Für Polen traf Willimowski in 22 Partien 21 Mal, darunter einmal gegen Deutschland; für die deutsche Mannschaft schoss er in acht Spielen 13 Tore - eine Quote, wie sie später nicht einmal der große Gerd Müller zuwege brachte. Allerdings war dies in den Jahren 1941/42, die Spieler traten mit Hitlergruß auf, auf dem Trikot prangte das Hakenkreuz. Dies ist wohl auch einer der Gründe, warum Willimowski, einer der ersten Fußballstars seiner Zeit, in Deutschland fast völlig vergessen wurde und in Polen Jahrzehnte lang als Verräter galt.

Dabei schrieb der "Künstler mit den Segelohren" eines der glanzvollsten Kapitel in der Geschichte des internationalen Fußballs: Bei der WM 1938 dribbelte er im Achtelfinale gegen Brasilien die Hintermannschaft der Seleção schwindlig, schoss vier Tore und erzwang einen Elfmeter. Die Polen verloren zwar nach Verlängerung 5:6, Willimowski aber wurde trotz der Niederlage an der Weichsel als Nationalheld verehrt.

Auf der Tribüne hatte auch Reichstrainer Sepp Herberger die Begegnung verfolgt - drei Jahre später berief er Willimowski erstmals in die deutsche Nationalelf. Willimowskis Trikottausch war eine indirekte Folge der Politik: Der Rotschopf mit den Sommersprossen war 1916 in der oberschlesischen Industriestadt Kattowitz als Staatsbürger Preußens geboren worden, der Vater fiel im Ersten Weltkrieg. 1922 wurde Kattowitz in Folge des Versailler Vertrags an Polen angeschlossen, obwohl 85 Prozent der Bürger für den Verbleib beim Deutschen Reich optiert hatten.

Die Mutter schickte ihn auf eine deutsche Volksschule, der kleine "Ezi" kickte in der Schülermannschaft des deutschsprachigen 1. FC Kattowitz. Mit 16 spielte er in der Seniorenmannschaft, erzielte Tor um Tor - und wurde vom benachbarten Erstligaklub Ruch Wielkie Hajduki (später: Ruch Chorzow) abgeworben, mit dem er viermal polnischer Meister wurde. Der Vorsitzende des 1. FC, der deutschnationale Aktivist Georg Joschke, verdammte diesen Wechsel als "Verrat an der deutschen Sache''.

Mit 17 machte Willimowski sein erstes Länderspiel - aber auch mit diversen Eskapaden auf sich aufmerksam. Schon als junger Mann hatte er ein Alkoholproblem. Auch unter dem sittenstrengen Herberger konnte er nicht vom Schnaps lassen. Doch der "Chef" hielt seine Hand über ihn. Willimowski war der Spaßmacher der Elf, ein früher Podolski, und überdies erfolgreich. Fritz Walter schrieb einmal über ihn: "Er schoss mehr Tore, als er Chancen hatte."

Sechzger-Held - Karriereende mit 43

Den TSV 1860 München, wo er mittlerweile gelandet war, schoss Willimowski 1942 zum ersten Pokalsieg seiner Geschichte: Die Löwen gewannen gegen Schalke 2:0, Willimowski erzielte im Finale den ersten Treffer. Im Gegensatz zu den Schalker Stars ließ er sich jedoch nie von der Nazi-Propaganda einspannen. Seine oberschlesische Heimat hatte er im ersten Kriegsjahr verlassen, nach einem heftigen Zusammenstoß mit seinem früheren Vereinsboss Joschke - mittlerweile NSDAP-Kreisleiter von Kattowitz - der ihm seinen einstigen "Verrat" nie verziehen hatte.

Nach Stalingrad mussten auch die Spitzenfußballer, die bis dahin vom Kriegseinsatz verschont geblieben waren, an die Front. Willimowski wurde, vermutlich in der Ukraine, verwundet, durfte danach bis Kriegsende in der Etappe bleiben und weiter Fußball spielen. Da er nun auch in Polen als Verräter galt, war ihm die Rückkehr nach Oberschlesien allerdings verwehrt. Er tingelte durch mehr als ein Dutzend Vereine, fand in den fünfziger Jahren vorübergehend Stabilität beim VfR Kaiserslautern - und schoss weiter Tor um Tor. Mit 43 beendete er seine Karriere, nach etlichen weiteren Alkoholexzessen.

Nach dem Ende seiner Laufbahn geriet Willimowski rasch in Vergessenheit. Im kiloschweren Prachtband "100 Jahre DFB" von 1999 ist er mit keiner Silbe erwähnt. In Polen war er zu dieser Zeit längst wieder entdeckt, die Debatte um den 1997 verstorbenen Willimowski hält bis heute an: War er ein "Verräter der polnischen Sache" oder einfach nur ins Räderwerk der Politik geraten? Einig ist man sich indes in einem Punkt: Ernst Willimowski war einer der außergewöhnlichsten Fußballer, die beide Länder je gesehen haben.

Der Autor war von 1988 bis 2012 SZ-Korrespondent für Osteuropa. Er ist Verfasser des Buchs "Schwarze Adler, weiße Adler - D eutsche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik".

© SZ vom 16.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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