Pflege:Ein Leben für andere

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"Wir waren sofort auf einer Wellenlänge, als wir uns kennengelernt haben", sagt Familie K.. Sie hat Joachim F. aufgenommen und pflegt ihn. (Foto: Catherina Hess)
  • Familienangehörige und enge Freunde zu pflegen, kostet Kraft und vor allem Zeit. Ruza M. und das Ehepaar Christine und Eduard K. erfahren das jeden Tag aufs Neue.
  • Wer pflegt, kann oft nicht genug Geld verdienen, um die intensive Betreuung überhaupt zu finanzieren. Auch übernehmen Krankenkassen nicht jede Behandlung.
  • Der SZ-Adventskalender hilft.

Von Florian Fuchs

Richtig geschlafen hat Ruza M. schon lange nicht mehr, wie sollte sie auch, bei den Sorgen. Der Schrank im Schlafzimmer fällt fast auseinander, der im Wohnzimmer wird von Klebeband zusammengehalten, der 30 Jahre alte Ofen funktioniert nicht mehr, Winterkleidung ist, wenn überhaupt vorhanden, uralt und zerschlissen.

Und dann sind da noch die Schulden. Aber selbst wenn M. all diese Probleme nicht hätte, wenn das Geld reichen würde, dann würde sie auch nicht wie die meisten Menschen abends ins Bett gehen und morgens wieder aufstehen. Die 66-Jährige müsste mehrmals pro Nacht raus und nach ihrem Sohn Sascha schauen, ihn wenden und pflegen. "Eigentlich", sagt Ruza M., "schlafe ich auf Raten."

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Sie macht das seit 42 Jahren, seit Sascha auf die Welt gekommen ist. Es war ein Kaiserschnitt, ganz schwere Geburt. Sascha hatte sich im Bauch gedreht, die Ärzte mussten ihn rausholen, aber als er dann draußen war, hatte das Gehirn schon Schaden genommen: Sauerstoffmangel. "Der Junge", wie M. immer wieder sagt, ist schwerst körperlich und geistig behindert.

Er ist bettlägerig, er kann nicht auf die Toilette gehen, nicht alleine essen und nicht trinken, die Gliedmaßen sind verkümmert, sprechen kann Sascha auch nicht. Niemand weiß, wie viel er überhaupt von seiner Umgebung mitbekommt, auch M. nicht. Aber wo Pfleger und Helfer ratlos sind, spürt sie als Mutter trotzdem, was ihr Sohn braucht. "Ich weiß nur nicht, was einmal werden soll", sagt die 66-Jährige. "Wenn ich nicht mehr bin, macht er es auch nicht mehr lange, da bin ich sicher."

Wenn M. auf ihrem Sofa sitzt und die Geschichte ihres Sohnes erzählt, den sie währenddessen im Rollstuhl in seinem kleinen Zimmer geparkt hat, dann kommen ihr ein ums andere Mal Tränen. Dabei war die Hoffnung anfangs noch groß, so schnell wollten sie und ihr Mann die Behinderung ihres Sohnes nicht akzeptieren. Die Familie hatte Geld zurückgelegt, also fuhr sie zu Spezialisten in die Schweiz und nach Österreich, immer auf der Suche nach der durchschlagenden Therapie. Nichts half, erst ein Arzt in Zagreb sprach die Wahrheit so brutal aus, dass die Familie es einsah. "Lassen Sie es bleiben", sagte er. "Geben Sie bitte kein Geld mehr aus, es hilft nichts."

So einen Satz musst du erst einmal verdauen, aber Ruza M. ist nicht der Typ, der lange lamentiert. Sie ist nur verzweifelt, weil die Familie sich nicht schon viel früher um Hilfe gekümmert hat. Ihr Mann Nicola sei zu stolz gewesen, er wollte alles allein schaffen. Also haben sie angepackt. Wenn er von der Arbeit kam, ging sie zur Schicht in eine Kettenfabrik. Ihren Mann hat das alles kaputt gemacht, er erkrankte selbst an Morbus Bechterew, seine Gelenke waren entzündet und verknöcherten, auch brauchte er dauerhaft ein Sauerstoffgerät. 17 Jahre lang pflegte Ruza M. nicht nur ihren Sohn, sondern auch ihren Mann. In der Wohnung lagen 50 Meter Sauerstoffkabel, bis Nicola 2001 im Alter von 57 Jahren starb.

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Ihr Leben damals mit Schichtarbeit und Pflege war hart, erzählt M. "Aber ich war trotzdem glücklich." Heute dagegen, sagt sie, arbeitet sie als Betreuerin für ihren Sohn rund um die Uhr - ohne Gehalt. Das ist frustrierend. Sie bekommt eine kleine Rente für sich und dazu eine Witwenrente, aber das reicht nicht einmal für die Miete. Sascha erhält Grundsicherung, das brauchen Mutter und Sohn zum Überleben. Dabei bräuchte die Mutter einiges mehr, nicht nur an Geld, sondern auch an Hilfe für sich selbst, um es wenigstens ein bisschen leichter zu haben.

Seit 2007 hat sie selbst einen Schwerbehindertenausweis, die Arbeit, die Pflege und die Sorgen haben auch ihr zugesetzt. Zwei Bandscheibenvorfälle hat sie überstanden, sieben mal musste sie an Bein und Knie operiert werden, dabei braucht sie doch Kraft, um Sascha betreuen und überhaupt waschen zu können. Die Hände des 42-Jährigen zum Beispiel sind dauerhaft so verkrampft, dass sie die Finger richtig aufbiegen muss, um sie reinigen zu können. "Sonst bekommt er wunde Stellen".

Die Pflege eines Menschen kostet immer Kraft - und Zeit. So ist es auch bei Joachim F., der ebenfalls schon lange keine Dusche mehr gehabt hat. Der 64-Jährige ist sehr schlecht zu Fuß, der Rand der Badewanne ist ein unüberwindbares Hindernis. Also muss auch er gewaschen werden, und da hat F. nun endlich auch einmal Glück gehabt in seinem Leben, weil das Waschen und die übrige Pflege das befreundete Ehepaar Christine, 57, und Eduard, 63, K. übernehmen.

"Das ist ein großes Glück", sagt Joachim F. auch selbst, und dass einer wie er überhaupt von Glück sprechen kann, ist sehr beachtlich. Mehrmals hatten Ärzte F. bereits abgeschrieben, immer wieder hat er sich trotzdem erholt. "Ein Stehaufmännchen ist er", sagt Christine K. Auf jeden Fall hat er so ziemlich jedes Krankenhaus in München schon einmal von innen gesehen.

Herzinfarkte 2004 und 2009, Schlaganfall 2009, Stents, Bypass und Herzschrittmacher aufgrund von Herzinsuffizienz, chronische Niereninsuffizienz sowie eine chronische Lungenerkrankung, beginnende Demenz, Diabetes - das sind mal nur die Eckpfeiler der Krankengeschichte. Joachim F. selbst kann dazu gar nicht so viel erzählen, er ist schon noch fit im Kopf, normale Gespräche sind kein Problem, aber all sein Leid, das hat er vorsichtshalber aus dem Gedächtnis gestrichen. Also liegt er in seinem Pflegebett, an einem der Finger das Zuckermessgerät, und nickt meist einfach, während Christine und Eduard K. sich um ihn herum gruppiert haben und erzählen.

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Nach dem Mauerfall ist F. aus Leipzig zur Familie nach München gekommen, die hier schon lange lebte. Die Kindheit in der DDR war nicht schön, und auch später hatte er viel Pech. Als Möbelpacker hat er hart geschuftet, aber dann landete er auf der Straße, bis er sich berappelte und schließlich eine Wohnung fand. 2009 erst lernte er das Ehepaar K. kennen, in einem Begegnungscafé, wo er ehrenamtlich Frühstück zubereitete. Es war ein Segen, denn ohne seine zwei Helfer würde es ihm heute deutlich schlechter gehen.

Nach seinem zweiten Herzinfarkt und seinem Schlaganfall kümmerten sie sich um ihn wie um einen Sohn, Eduard K. zog sogar für einige Monate bei Joachim F. ein, um ihn zu unterstützen. Die Ärzte schickten F. nach Hause, damit er in vertrauter Umgebung sterben kann. In einem anderen Krankenhaus setzten sie alle Medikamente ab, gaben ihm nur noch Tabletten gegen die Schmerzen, aber auch da erholte er sich.

Einmal wurde es ihm zu viel: Er konnte das alles nicht mehr verarbeiten, er schlug im Krankenhaus um sich und beschimpfte Ärzte, Pfleger und auch das Ehepaar K. so wüst, sodass sie ihn in die Psychiatrie brachten. Eduard K. holte ihn wieder nach Hause. "Das war ein Elend dort, das konnte man ja nicht mit ansehen", sagt er.

Heute wohnt Joachim F. sogar bei Christine und Eduard K., sie haben ihr Schlafzimmer freigeräumt und dort sein Pflegebett aufgebaut. Morgens um 5 Uhr geht es los, waschen, frühstücken, dann raus aus dem Bett und in der Wohnung ein paar Schritte gehen, ausruhen, essen, ein bisschen fernsehen.

Dass F. überhaupt wieder isst, wäre allein mit ärztlichem Rat wohl auch nicht so gekommen. Eines Tages verpassten sie ihm eine Sonde, künstliche Ernährung. Eduard K. schaute sich das einige Zeit an, dann holte er Wurst und ein Stück Breze. "Und wenn er erstickt?", sagte Christine K. "Dann hat er wenigstens noch was gehabt", antwortete ihr Mann. Heute braucht F. keine Sonde mehr, sie haben ihn behutsam wieder an feste Nahrung gewöhnt, nur mit dem Zucker muss er aufpassen, aber das haben sie im Griff.

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"Wir waren sofort auf einer Wellenlänge, als wir uns kennengelernt haben", sagt Eduard K., also war es für ihn vollkommen klar, Joachim F. zu unterstützen, als der die Hilfe dringend brauchte. Er hat ihm versprochen, dass sie ihn nie in ein Pflegeheim geben. Und er ist ein Mann, der sein Wort hält, auch wenn die Pflege nicht nur Kraft, sondern viel Geld kostet.

F. braucht zahlreiche Medikamente, Cremes und auch Windeln, die Krankenkasse übernimmt nicht alles, mehr als 200 Euro im Monat zahlt das Ehepaar K. drauf. Joachim F. würde seinen Freunden gerne ein bisschen Geld für all die Mittel zurückgeben und er hätte gerne eine Fernsehsessel mit Aufstehhilfe - im Rollstuhl ist es abends immer so unbequem, dass er kaum sitzen kann.

Für solche Extras aber reicht das Geld nicht, genauso wenig wie bei Ruza M. mit ihrem Sohn Sascha. Ein neuer Herd würde helfen, damit sie auch mal Angebote im Supermarkt nutzen und etwas in den Ofen schieben kann. Ein Stabmixer wäre wichtig, Sascha kann nur püriertes Essen zu sich nehmen. Kleidung, Kissen, Schränke, all das würde den Alltag ein wenig erleichtern - und den Schlaf auf Raten, der für Ruza M. zur Gewohnheit geworden ist, wenigstens erholsamer gestalten.

© SZ vom 10.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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