München:Lebendiges Holz

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Der Heilig-Kreuz-Altar aus Maria Ramersdorf ist ein Meisterwerk von Erasmus Grasser und kann nun in der großen Ausstellung zum 500. Todestag des großen Münchner Bildhauers bewundert werden

Von Berthold Neff

Maria Ramersdorf. (Foto: Angelika Bardehle)

Die Bibel sagt: Im Anfang war das Wort. In dieser Geschichte war im Anfang das Holz, ein Splitter nur, aber immerhin vom wahren Kreuze Christi. Der Überlieferung zufolge hatte Kaiser Ludwig der Bayer in sein gotisches Brustkreuz aus Gold einen Partikel des Kreuzes einarbeiten lassen, dessen Provenienz sich im Dunkel der Jahrhunderte verliert. Entweder hat der Wittelsbacher, der sich am 17. Januar 1328 im Petersdom zu Rom zum Kaiser krönen ließ, die Reliquie von einer Pilgerfahrt ins Heilige Land mitgebracht oder aber als Geschenk vom Gegenpapst Nikolaus V. erhalten. Wie auch immer, er ließ sie in Gaze hüllen und von einem Goldschmied ins Brustkreuz einarbeiten, das er stets trug - vielleicht auch in seiner letzten Stunde. Er stürzte am 11. Oktober 1347 in Puch bei Fürstenfeldbruck bei einer Bärenjagd vom Pferd.

Dreißig Jahre später gelangte das Kleinod in eine kleine Kirche in Ramersdorf, in der damals schon Wallfahrer die Muttergottes verehrten. Einer seiner Söhne hatte es gestiftet, als Dank dafür, dass er im Heiligen Land nicht den Sarazenen in die Hände gefallen war. Die Kreuz-Reliquie zog so viele Gläubige an, dass eine neue, größere Kirche gebaut wurde - und ein Kreuzaltar her musste. Aber wer sollte ihn schnitzen?

Das Leid vor Augen: Aus der Nähe betrachtet, wird offenbar, mit welch großem Können Erasmus Grasser seine Menschen aus Lindenholz schnitzte. (Foto: Thomas Dashuber)

Dafür kam, da waren sich damals wohl alle einig, nur der Meister Erasmus Grasser in Frage. Er hatte im städtischen Auftrag die kühnen Moriskentänzer für das Alte Rathaus geschaffen, den der Hof als Tanzsaal nutzte, er war - gerade mal 30 Jahre alt - schon Vorsteher der Malerzunft, der auch die Schnitzer angehörten. Er hatte sich, durch sein Talent, dem Holz Leben zu entlocken, viele Neider gemacht, die ihn anfangs als "unfridlicher, verworner und arcklistiger knecht" angeschwärzt hatten. Aber er setzte sich durch.

Was der Meister mit seinem Schnitzmesser vor mehr als fünf Jahrhunderten dem Holz entrissen hat, berührt heute so wie damals. Die große Grasser-Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum, die aus Anlass seines 500. Todestags zustande kam, zeigt dies höchst eindrucksvoll. Das Kreuzretabel, im vorigen Jahr restauriert, ist neben der Kreuzreliquie ein wichtiges Teil dieser Ausstellung. Zwei Tage bleiben noch, um dieses Meisterwerk spätgotischer Kunst ganz aus der Nähe zu bewundern. Dann wird der Kreuzaltar zurück in die Kirche gebracht, damit ihn die Gläubigen an Mariä Himmelfahrt bewundern können. Im geschlossenen Zustand ist in Bildtafeln dargestellt, wie die Reliquie in die Kirche kam. Geöffnet zeigt der Altar Grassers großes Können.

Eine der Figuren ist auch Maria. (Foto: Thomas Dashuber)

Der Meister stellt im Mittelschrein und auf den vier Seitenflügeln all das dar, was für Christen der Kern ihres Glaubens ist, die Leidensgeschichte Christi und seinen Opfertod. Das Kreuz, an dem er seinen Geist hingab und dessen Partikel genau hier als Reliquie verehrt wird, beherrscht die Darstellung. Die Flügelreliefs geben, im Uhrzeigersinn, von links oben beginnend, die Abfolge der dramatischen Ereignisse wieder: Jesus betet auf dem Ölberg, während die von Judas geleiteten Häscher schon im Anmarsch sind, seine Jünger jedoch schlafen. Dann wird er, immer noch in den purpurnen Mantel gehüllt und von Schergen gefesselt, dem jüdischen Hohepriester Kaiphas vorgeführt, der ihn den Römern ausliefert. Pontius Pilatus verurteilt ihn zum Tode und wäscht seine Hände in Unschuld, das Wasser plätschert in eine goldene Schale. Die vierte Tafel, eine Darstellung der Geißelung, weist schon auf die Qual am Kreuz, die zentrale, erschütternde Botschaft im Mittelschrein.

Der Kunsthistoriker Philipp Maria Halm, von 1920 bis 1931 Generaldirektor des Bayerischen Nationalmuseums, hat dies in seinem Grasser-Buch von 1928 so beschrieben: "Das Haupt des Gekreuzigten, von langen Locken umrahmt, im Todeskampfe bis auf die Knochen eingefallen und von herber Strenge, neigt sich zur rechten Schulter; eine ausdrucksvolle Verkörperung der letzten Worte: Es ist vollbracht." Er schildert auch, wie Grasser die Figur der Maria gestaltet hat: "Vorne, in ohnmächtigem Schmerze zusammenknickend, die Mutter des Herrn, von zwei Frauen gehalten." Maria hält den Kopf gesenkt, man sieht ihr Gesicht kaum. Ihre Hände hängen kraftlos, ohnmächtig nach unten, alles Leben scheint aus ihnen gewichen zu sein. Es ist beeindruckend, wie es Grasser versteht, diesen reliefartigen Figuren trotz ihrer geringen Tiefe die dritte Dimension zu verleihen.

Der Heilig-Kreuz-Altar wird demnächst wieder in Maria Ramersdorf zu sehen sein. (Foto: Thomas Dashuber)

Und noch etwas fasziniert bei dieser Darstellung des Kalvarienbergs, worauf Halm schon in seiner Arbeit vor 90 Jahren hinwies: "Es liegt über dem Ganzen eine ernste Feierlichkeit des Schmerzes, durch die Massen geht es wie stilles Weinen, das selbst über den Feinden und Henkern des Herrn, den Schriftgelehrten, Hohenpriestern und Knechten zu schweben scheint." Es ist nicht klar auszumachen, wo denn nun die Bösen sind und wo die Guten. Es muss dahingestellt bleiben, ob damit angedeutet werden sollte, dass auch die sogenannten Bösen letzten Endes nur als Werkzeuge der Vorsehung handelten, dass also erst durch sie, die Christus in den Tod trieben, das Christentum ermöglicht wurde.

Nach dem Gang durch die Ausstellung, nach dem Blick auf die Moriskentänzer, die ihre Beine und Hände, ja ihren gesamten Körper im Rhythmus der Musik auf wunderliche Weise verrenken, fällt auf, dass auch einige Gestalten auf dem Kreuzaltar ihre Beine eigenartig verdrehen. Das verleiht der Komposition Dramatik. Grasser hat nicht nur die Gesichter, sondern auch die Hände seiner Figuren mit großer Sorgfalt geschnitzt. Nur zwei der vielen Gestalten haben sie zum Gebet gefaltet: Jesus auf dem Ölberg und die junge Frau hinter Maria, die zum Gekreuzigten aufblickt. Könnte es Maria Magdalena sein?

Grasser hat jede dieser kleinen Gestalten mit derselben Akkuratesse gearbeitet wie die imposanten, lebensgroßen Propheten, die er aus Eichenstämmen für das Chorgestühl der Frauenkirche formte. Es sind, wie Kurator Matthias Weniger konstatiert, "keine edlen Antlitze, sondern Charakterköpfe mit großen Nasen, breiten Kinnpartien, seitlich abfallenden Augenbrauen, eingefallenen Wangen", richtige Menschen. Sie wollen uns, "fast immer mit zum Sprechen geöffneten Mündern", etwas sagen. Vielleicht dies: Wir sind zwar aus Holz, aber wir leben.

© SZ vom 14.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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