München:Eine Stadt in der Dauerkrise

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67 Organisationen gründen das "Bündnis München Sozial", das sich für bezahlbaren Wohnraum einsetzt

Von Renate Winkler-Schlang, München

Paritätischer Wohlfahrtsverband und Caritas, Innere Mission und Arbeiterwohlfahrt, Condrobs, Biss, der Vdk, das Selbsthilfezentrum und Dutzende mehr: 67 Verbände, Vereine und Initiativen aus dem sozialen Bereich haben sich zusammengeschlossen zum "Bündnis München Sozial". Sie wollen sich "als kritischer und konstruktiver Partner der Stadt" einmischen bei brennenden Themen. Zu den brennendsten überhaupt zählt das extrem hohe Mietniveau. Dass es alle anderen Problemlagen verschärft, zeigten die teilweise erschütternden Praxisbeispiele von Sozialarbeiterinnen bei einer großen Veranstaltung des Bündnisses am Freitag im Gewerkschaftshaus.

Da berichtete etwa Irmgard Ernst vom Münchner Arbeitslosenzentrum Malz, wie dramatisch sich der Auszug des erwachsenen Sohnes für eine kranke Hartz-IV-Empfängerin auswirkt. Plötzlich haben die übrigen Familienmitglieder rechnerisch einen zu hohen Mietanteil, der nicht gefördert wird. Das Amt verlangt den Umzug in eine günstigere Wohnung - die es nicht gibt. Was der Frau bleibt: Sie knapst die 150-Euro-Differenz von ihrer kargen Regelleistung ab und lebt nun unterhalb des festgesetzten Mindestbedarfs. Eine andere Frau kann die Differenz einfach nicht aufbringen, weil sie noch Kosten für eine Umschulung zu stemmen hat. Sie macht Mietschulden, die Kündigung kommt kurz vor Weihnachten. Nun lebt sie in einem Wohnheim. Weitere Beispiele: Selbständig gewordene Frauen bleiben im Frauenhaus; anerkannte Flüchtlinge werden in ihrer Unterkunft geduldet; Jugendliche verharren auch nach der abgeschlossenen Ausbildung in der betreuten WG, weil sie nichts angeboten bekommen vom Wohnungsamt und nichts finden auf dem Wohnungsmarkt. Alleinerziehende hausen mit den Kindern auf engstem Raum, haben keine Privatsphäre; Kinder schämen sich, jemanden einzuladen. Alte Witwen leben in zu großen Wohnungen ohne Aufzug, weil eine neue, kleinere, barrierefreie viel teurer wäre. Wohnen sei überall das drängendste Problem, fasste Karin Majewski vom Paritätischen Wohlfahrtsverband zusammen. Norbert Huber von der Caritas ergänzte, das Problem sei eindeutig in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Die statistischen Zahlen zu diesen Fallbeispielen hatte Thomas Specht vom Verein Wohnungsnotfallhilfen in Berlin: In München gibt es derzeit 4,3 Obdachlose pro 1000 Einwohner, 2006 waren es im Schnitt 2,2. Der Weg in die Wohnungslosigkeit sei inzwischen oft "eine Einbahnstraße", sagte der Wissenschaftler. Ein Grund für die "Dauerkrise" sei "der Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung". In München kommen 28 Sozialwohnungen auf 1000 Einwohner, in Hamburg sind es 45. Nur 6,1 Prozent der Wohnungen seien für arme Haushalte überhaupt bezahlbar, München sei "einsamer, sehr trauriger Spitzenreiter in Deutschland". Zur Aufmunterung dienten gelungene Beispiele sozialen Wohnungsbaus, die Architekt Rainer Hofmann vorstellte.

Sozialer Wohnungsbau, Genossenschaft, Investor - jeder braucht als Grundlage den Boden: "Unvermehrbar und unverzichtbar wie Luft und Wasser", sagte Christian Stupka, Sprecher der Initiative für ein soziales Bodenrecht, und plädierte für radikale Ansätze: Auch die bayerische Verfassung gebe das her. Stoff genug für die Arbeitsgruppen, die Forderungen an die Parteien für die Landtagswahl erarbeiten.

© SZ vom 19.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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