Moderne Betreuung:Eine große Familie

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Die "Brücke" an der Chiemgaustraße wird 20 Jahre alt: Sie betreut Menschen mit schwerer körperlicher und mehrfacher Behinderung. Ihre Förderstätte beschäftigt in sieben Kleingruppen 38 Teilnehmer und gibt damit allen eine Tagesstruktur

Von Hubert Grundner, Obergiesing

"Behinderte sind Menschen wie du und ich und sie haben genau so viel Spaß und Lust am Leben wie wir", sagt Paul Schlierf-Motejzik. Er ist Geschäftsführer der "Brücke", einer kleinen Einrichtung der Behindertenhilfe, die an der Chiemgaustraße 26-28 eine Förderstätte und ein Wohnheim betreibt. Immer wieder ist von "Familie" die Rede, wenn Schlierf-Motejzik versucht, das Besondere an der Arbeit in dieser Einrichtung zu beschreiben. Die Betreuung der überwiegend schwerst Körperbehinderten, das sei mehr als ein Kundenverhältnis. Das bestätigt auch Siegrit Brock, die Leiterin der Förderstätte. Natürlich bestehe die Notwendigkeit einer professionellen Distanz zu den Betreuten, ohne die sich die Arbeit oft gar nicht schaffen ließe, so Brock. Ebenso selbstverständlich ist es aber für sie und ihren Chef, dass sich in einer so überschaubaren Einrichtung wie der Brücke immer wieder ein besonders herzliches Verhältnis zu dem einen oder anderen Schützling herausbildet. Das prägt die Atmosphäre im Haus, trägt zur Zufriedenheit von Betreuten und Betreuern bei. Der Vergleich mit einer Familie erscheint da nicht abwegig. Und die "Familie" hält zusammen: An diesem Donnerstag feiert die "Brücke" zusammen mit geladenen Gästen ihr 20-jähriges Bestehen.

Arbeitsalltag: Christian sägt im Förderbereich Holz. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Dieses Jubiläum markiert in etwa auch eine Zeitenwende im Umgang mit körperlich und/oder geistig eingeschränkten Menschen. Zuvor galten sie geradezu als rechtlos und hatten kaum Anspruch auf Unterstützung. Ohne Rücksicht auf Art und Schwere der Behinderung wurden sie oft kurzerhand in Alten- und Pflegeheime gesteckt, wie sich Geschäftsführer Paul Schlierf-Motejzik noch erinnern kann.

Zustände, die glücklicherweise überwunden sind. Dafür wartet die heutige Zeit mit eigenen, neuen Herausforderungen auf. Dazu gehört der finanzielle Druck, der auf den Sozialsystemen lastet. So musste zuletzt Personal eingespart werden, da die Fallzahlen insgesamt steigen. Und die Fallzahlen steigen, wie Schlierf-Motejzik erklärt, aus leicht nachvollziehbaren Gründen: Aufgrund des medizinischen Fortschritts, besserer Ernährung und geringerer Umweltbelastung leben alle Menschen länger. "Jetzt haben wir die ersten Behinderten, die ins Rentenalter kommen."

Im Wohnbereich bereiten Angelika (im rosa Shirt) und Özlem mit Betreuerin Dominique das Mittagessen vor. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Aber schon bevor der Ruhestand winkt, benötigen sie individuelle Betreuung, Förderung und Pflege. Diese Betreuung bietet die "Brücke" Menschen mit schwerer körperlicher und mehrfacher Behinderung an der Chiemgaustraße an. Ihre Förderstätte beschäftigt in sieben Kleingruppen mit den Schwerpunkten Holz, EDV, Glas, Ton und Textil insgesamt 38 Teilnehmer. Der "Arbeitstag" beginnt um 8.15 Uhr und endet um 16.30 Uhr. Wobei für die Einrichtung, wie Siegrit Brock klarstellt, keine Notwendigkeit bestehe, Geld zu verdienen. "Wir sind ausschließlich eine Eingliederungshilfe. Zwar verkaufen wir unsere Produkte auch, aber nur in kleinem Rahmen", sagt Brock. Ansonsten sollen die Teilnehmer in der Förderstätte im Umgang mit unterschiedlichen Materialien vielseitige Techniken und Fertigkeiten erlernen. Gruppenübergreifende Aktivitäten wie zum Beispiel Kochen, Musizieren, Gartenarbeit, Fotografieren und intellektuelle Förderung ergänzen das Angebot.

In einer so überschaubaren Einrichtung wie der Brücke bildet sich immer wieder ein besonders herzliches Verhältnis zu dem einen oder anderen Schützling heraus. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Art und Ausprägung der Behinderung sind bei den Teilnehmern sehr unterschiedlich. Danach richtet sich wiederum das individuelle Maß an Förderung und Betreuung, die sie hier erfahren. Das reicht vom Eingebundensein in eine geregelte Tagesstruktur bis hin zur Bewältigung von komplexeren Aufgaben.

Im Wohnpflegeheim, das Christian Kipnick leitet, stehen in drei Gruppen für 20 Bewohner Wohnplätze in Form von Einzelzimmern zur Verfügung. Der Schwerpunkt der individuellen Förderung, Betreuung und Pflege liegt dort im alltagspraktischen Bereich sowie der Freizeitgestaltung. Dabei sollen die Bewohner zur größtmöglichen Selbständigkeit und Selbstbestimmung befähigt werden. Nicht zuletzt geht es aber auch um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Bei der Brücke versucht man dies durch möglichst abwechslungsreiche Betreuungsangebote, Ausflüge, Feste und Ferienfreizeiten sicherzustellen. Zum Konzept des Hauses gehört auch eine feste Zuordnung der Mitarbeiter in den Gruppen. Das soll für Kontinuität in der Betreuung sowie für Vertrauen und Stabilität in den Beziehungen zwischen ihnen und ihren Schützlingen sorgen.

Um diese Kontinuität zu wahren, wird die Einrichtung auf dem Weg in die Zukunft aber auch den Wandel bewältigen müssen. Der ergibt sich zum einen aus den neuen Aufgaben, verursacht durch eine älter werdende Klientel. Zum anderen stößt die Arbeit der "Brücke" an Grenzen: Behinderte und Betreuer müssen sich in ihrem jetzigen Domizil in extrem beengten Verhältnissen zurechtfinden, was auf Dauer nicht so bleiben kann. Tatsächlich laufen bereits erste Planungen zur Modernisierung der Einrichtung, wobei die Belegung in etwa gleich groß bleiben soll. Ginge es nach Geschäftsführer Schlierf-Motejzik, würde er sich an gleicher Stelle einen Neubau wünschen - "alles andere macht keinen Sinn", sagt er.

Und noch etwas würde er sich angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl wünschen: das Ende des pauschalen Ausschlusses der Behinderten mit rechtlichen Betreuern vom Wahlrecht. Entsprechende Initiativen, die sich dabei auf die auch von Deutschland unterzeichnete UN-Behindertenkonvention berufen, bejaht er "auf alle Fälle".

© SZ vom 13.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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