Ludwigsvorstadt:Das Leben erleben

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Ohne Unterstützung anderer könnten viele Taubblinde ihren Alltag nicht bewältigen. Der Fachdienst Integration Taubblinder Menschen vermittelt Assistenten an die Betroffenen

Von Cathrin Schmiegel, Ludwigsvorstadt

Ohne Dolmetscher ist ein Interview mit Franz Kupka kaum möglich. Die Worte, die er spricht, sind undeutlich; ein ungeübter Zuhörer kann sie kaum verstehen. Die Gebärdendolmetscherin Kathleen Riegert muss Kupkas Sätze wiederholen. Teils ist sie dabei genauso schnell wie Kupka. Fragen zu stellen, ist aufwendiger - dann muss Riegert auf bestimmte Punkte in Kupkas Hand tippen, eine Abfolge aus Strichen und Punkten, manchmal ein Kreis. Jede Stelle der Hand ist einem bestimmten Buchstaben im Alphabet zugewiesen. "Lormen" nennt sich diese Art der Kommunikation. Kupka beherrscht die Technik perfekt. Er ist taubblind.

Seit fast 28 Jahren leitet der 69-Jährige eine Selbsthilfegruppe für Taubblinde. "Dabei können die Teilnehmer Erfahrungen austauschen", erklärt Kupka die Funktion. In unterschiedlichsten Ausdrucksformen versteht sich; manche der Anwesenden lormen mit ihrem Gegenüber, das Groß allerdings bedient sich der bekannteren Gebärdensprache. Überall in dem Raum im Nymphenburger Jugendwohnheim für Gehörlose gleiten Hände durch die Luft. Eine Frau fasst ihren Gesprächspartner bei den Händen, während sie gestikuliert. So kann er ihre Gesten erfühlen. "Taktiles Gebärden" nenne sich das, erklärt Kathleen Riegert. Hat sie genügend Bewegungsfreiheit, spricht sie auf diese Weise mit Kupka.

"Bei den wenigsten Menschen sind beide Sinne vollkommen eingeschränkt", sagt Thomas Asam. Der Sozialpädagoge hat sein Büro in Ludwigsvorstadt; dort hat der Fachdienst Integration taubblinder und hörsehbehinderter Menschen (ITM) seinen Sitz. Entgegen der landläufigen Meinung dient dem Verein das Wort "taubblind" als Überbegriff für alle Menschen, deren Hör- und Sehsinn auf irgendeine Weise eingeschränkt ist. Auch Hörsehbehinderte würden unter diese Definition fallen. Die Gruppe der Betroffenen, sagt Asam, sei sehr heterogen: "Es gibt alle möglichen Kombinationen aus Seh- und Höreinschränkungen."

Gutes Gespräch: Jede Stelle der Hand ist einem bestimmten Buchstaben zugewiesen. "Lormen" nennt sich diese Art der Kommunikation. (Foto: Catherina Hess)

Seit 2010 arbeitet Asam bei dem Verein als Referent - zusammen mit Britta Achterkamp, der Fachdienstleiterin, und Nicole Hauf, die für die Verwaltung zuständig ist. Im Juli erst feierte der Verein sein fünfjähriges Bestehen. Er ist Anlaufstelle für Taubblinde und deren Angehörige in ganz Bayern. Neben der deutschlandweiten Vernetzung mit anderen Hilfsstellen, vermittelt der Fachdienst hauptsächlich Assistenten an Taubblinde. Diese unterstützen Betroffene bei Erledigungen oder der Navigation in der Öffentlichkeit.

"Derzeit arbeiten 25 junge Frauen bei uns", sagt Asam. Viel zu wenige, denn: Bis dato ist die Tätigkeit von staatlicher Seite als Ehrenamt eingestuft, die Ansprüche an die Helfer sind allerdings sehr hoch. Die nötigen Qualifikationen eignen sich die Helfer über Monate hinweg in Schulungen an. Problematisch, sagt Asam, sei es, dass die Ehrenamtlichen ihre Arbeit nicht unbegrenzt fortführen können. Irgendwann hätten die meisten einen anderen Job und nicht mehr so viel Zeit für die TaubblindenAssistenz, sagt Asam: "Deswegen ist es wichtig, die Ausbildung zu professionalisieren".

Wie viele Menschen in Deutschland taubblind und deshalb auf Hilfe angewiesen sind, ist schwierig zu ermitteln. ITM geht Schätzungen zufolge von 6000 Menschen in ganz Deutschland aus. Eine zuverlässige Statistik gäbe es nicht, das betont Asam immer wieder. Der Grund: "Es gibt im Schwerbehindertenausweis bis heute kein Merkzeichen, das Taubblindheit kennzeichnet." ITM setzt sich unter anderem auch für die Einführung des Merkzeichens ein. Seit Januar 2013 gäbe es immerhin das Taubblindengeld in Bayern, sagt Asam, Betroffene bekommen seit diesem Zeitpunkt staatliche Zuschüsse. "Viele der Taubblinden fallen aber durch das Raster", sagt Asam. Denn: Geld bekommen lediglich diejenigen, die komplett taub und massiv sehbehindert sind; im Jahr 2014 erfüllten die Bedingungen nur 212 Menschen.

Kupka bezieht die Förderung. Er kam gehörlos zur Welt, komplett erblindet ist er erst vor 14 Jahren. Grund dafür ist das sogenannte Usher-Syndrom, an dem er leidet. Die Krankheit ist die häufigste Ursache für eine Taubblindheit; die wenigsten Betroffenen kommen mit dieser Doppelbehinderung zur Welt. Drei Typen gibt es beim Usher-Syndrom, Kupka leidet an Typ I dieser Krankheit. Als sich seine Sehkraft immer mehr verschlechterte, hatte seine Firma ihm zur Umschulung geraten. Der Rentner war als Herrenschneider tätig. 1976 ist er dann nach Hannover zum Taubblindenwerk gegangen, dort konnte er sich neue Kommunikationsformen aneignen. Er lernte die Braille- und Kurzschrift und das Tastenschreiben mit zehn Fingern am Computer. Außerdem schulte Kupka um, er lernte "das Blindenhandwerk", wie er es nennt: Bürstenmachen und Stuhlflechten.

Acht Jahre lang arbeitete der Rentner im Blindenwerk und lernte, mit der neuen Situation umzugehen. Dann zog er nach München und hörte auf zu arbeiten. Seinen Alltag bestreitet er so gut es geht alleine. "Ich bin vollkommen selbstständig", sagt Kupka. Er wohnt alleine, auch sein Frühstück bereitet er sich selbst zu. Seine Lebensgefährtin, räumt er ein, sei jedoch sehr wichtig für ihn. Sie hilft ihm beim Einkaufen, geht mit ihm spazieren oder ins Schwimmbad. Kupka liebt es, Bahnen zu ziehen. Um sich zu orientieren, schwimmt er am Beckenrand entlang. Wie er wisse, ob ihm Leute entgegenkommen? "Die Menschen weichen mir dann schon aus", sagt Kupka und lacht schallend. Wenn seine Lebensgefährtin einmal keine Zeit hat, fragt auch er eine Assistentin bei ITM an. "Ohne Hilfe", sagt er, "könnte ich nicht selbstständig sein."

© SZ vom 02.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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