Ludwigsfeld:Die Wut schlägt Wurzeln

Lesezeit: 7 min

Ein Großvorhaben mit dem Kürzel SEM treibt die Landwirte im Norden seit Monaten um. Sie trauen den Versprechen der Stadt nicht

Von Simon Schramm

Drei Buchstaben lösen seit Wochen im Münchner Norden Empörung, aufgeregte Debatten, mitunter sogar Existenzängste aus. Die Abkürzung SEM, für Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme, bezeichnet ein Instrument aus dem Baugesetzbuch, mit dessen Hilfe die Stadt riesige Flächen zwischen Feldmoching und Ludwigsfeld als Siedlungsgebiet neu entwickeln möchte. Derzeit befinden sich dort Äcker und Wiesen, vor allem aber viel Freiraum. Eine der letzten bebaubaren Großflächen in München wurde Gegenstand einer kontroversen Diskussion.

Auf der einen Seite stehen Stadtplaner, denen im Norden ein großer Wurf im Bemühen um mehr Wohnraum gelingen soll, auf der anderen Seite Grundeigentümer, Landwirte und Anwohner, die sich von dem Vorhaben überrumpelt fühlen. Die Krux: Will sie nicht enteignen, ist die Stadt darauf angewiesen, mit den Eigentümern der Flächen zusammenzuarbeiten. Einerseits ist noch sehr viel unklar, etwa, wo exakt gebaut wird, andererseits hat die Stadt schon viele Ideen ins Spiel gebracht, wie einen Landschaftspark. Für die Verwaltung sind es noch theoretische Planspiele, für viele Landwirte im Norden wirken sich die Überlegungen schon jetzt praktisch aus.

"Regionalität kommt immer besser an", sagt Stefan Hausler. "Das ist der Trend. Die Kunden wollen wissen, wie das Gemüse produziert wird. Aber auch der Wettbewerb hat zugenommen." Der junge Gärtner steht im kühlen Gewächshaus im Norden Feldmochings, um ihn herum ein Meer aus Kräuter- und Gemüsebeeten. Hausler bückt sich, zupft ein Kraut ab. "Das ist die Blüte der Borretsch-Pflanze, die legen Barkeeper gerne in die Cocktails." Aus dem Treibhaus zeigt Stefan Hausler auf freie Ackerflächen. "Wir überlegen, ob wir das Gewächshaus erweitern sollen. Man muss konkurrenzfähig bleiben. Aber durch die SEM können wir nicht mehr sicher planen."

Wer seinen Dill oder Feldsalat auf dem Viktualienmarkt oder von anderen Münchner Märkten bezieht, der isst mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit Feldmochinger Produkte. Von den 23 Gemüsebauern in den Großmarkthallen ernten elf im Gebiet der SEM-Nord. Die Gärtner in den Großmarkthallen liefern ihr Frischgemüse auch an Gastrobetriebe und Supermärkte in der Stadt. Die Erzeugergemeinschaft, der Zusammenschluss der Bauern in den Hallen, warnt davor, dass durch die SEM ein "Versorgungsdefizit an regionalem Gemüse" in München drohe, etwa 220 Arbeitsplätze seien gefährdet. Einen der Betriebe führt die Familie Hausler gemeinsam mit 30 Mitarbeitern.

Früher Kartoffeln, jetzt Kühe: Droht Andreas Grünwald und seinem Vater Franz auf ihrem Hof in Ludwigsfeld noch eine weitere einschneidende Umstellung, wenn die städtebauliche Planung zu viele ihrer landwirtschaftlichen Flächen frisst? (Foto: Stephan Rumpf)

Die Stadt hat verlauten lassen, die Flächen, deren Eigentümer keine Entwicklung wollen, aus den Planungen zu nehmen. Und es steht ohnehin noch nicht fest, ob die Grundstücke der Hauslers bebaut werden. "Aber das Finanzamt sieht es anders", sagt der 28-jährige Stefan Hausler. Er hat mit einem Steuerberater gesprochen. Der hat ihm angekündigt, dass die Finanzbehörden schon jetzt die Flächen im Umgriff als Bauerwartungsland bewerteten. Deshalb werde der Betrieb auch anders - teurer für die Hauslers - besteuert.

Nach der überraschenden Mitteilung von Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) im Februar, im Norden der Stadt auf rund 900 Hektar Boden eine Siedlung zu planen, rumorte es unter Feldmochinger Landwirten. Ende März fiel der Entschluss, die Planung abzulehnen und Widerstand zu leisten. Ein Großteil der Landwirte aus den SEM-Flächen, unter ihnen Familie Hausler, hat sich in der "Heimatboden"-Initiative zusammengeschlossen und sich die Unterstützung einer PR-Agentur geholt, die auch Großunternehmen und Politiker berät. Einer der betroffenen Grundstückseigentümer ist mit dem Chef des Unternehmens bekannt. So haben die Feldmochinger sehr schnell mobilgemacht gegen die Idee der Stadt - mit einer professionellen Kampagne, Aktionen, einer Musik-Single, Transparenten und Aufklebern. Den Widerstand zu organisieren und zu betreiben, ist freilich ehrenamtliche Arbeit. "Heimatboden" gibt an, mittlerweile die Eigentümer von rund 400 Hektar Fläche im Umgriff und damit mehr als 80 Prozent der unbebauten Privatfläche im SEM-Nord-Gebiet zu vertreten.

Im Fall der Hauslers hat sich der Schrecken über die überraschenden Pläne der Stadt gelegt; stattdessen herrschen Wut und Angriffslust, oft wird emotional argumentiert. Einem der führenden Stadtplaner wirft die Familie vor, er sei zugezogener Münchner und habe daher keinen Bezug zur nördlichen Region. Die Stadt habe bei dem Vorhaben nichts zu verlieren und nehme die Feldmochinger in die Pflicht, weil sie selbst nicht die Mittel für den Bau habe, heißt es. "Man muss nicht in diesem Umfang bauen", sagt Stefan Hausler. Wie umfassend bebaut wird, steht noch nicht fest. Die Stadt hat aber angekündigt, nicht alle 900 Hektar in dem ins Auge gefassten Umgriff zu besiedeln. "Bei der SEM erhalten wir keine gerechte Entschädigung. Und dann auch noch die Drohung der Enteignung." Und wenn die Stadt doch ein ordentliches Angebot macht? "Der Zug ist für die Stadt abgefahren. Unter den SEM-Bedingungen gibt es bei uns keine Entwicklung", sagt der Gärtner.

Hausler ärgert es, dass die Stadt bisher keinerlei Kontakt zum Betrieb aufgenommen hat. "Genaue Aussagen über mein Eigentum bekomme ich nicht", murrt er. Im Osten Münchens will die Stadt auch eine Entwicklungsmaßnahme ausführen; dort ist man schon viel weiter als in Feldmoching, die Hauslers wollen von betroffenen Landwirten gehört haben, wie schlecht die Kommunikation sei. Die Stadtverwaltung räumt ein, dass sie die Eigentümer im Nordosten bisher nicht ausreichend einbezogen habe. Das wolle man im Norden besser machen: die Verhandlungen früher beginnen, enger zusammenarbeiten.

Dass die persönlichen Gespräche bisher ausbleiben, hat auch damit zu tun, dass die Arbeit der Stadtplaner derzeit in der Schwebe ist. Sie brauchen den politischen Auftrag des Stadtrats, um in die Planung zu gehen und Gespräche führen zu können. Angesetzt war dieser "Einleitungsbeschluss" für Anfang Mai, er wurde aber verschoben, weil noch Gesprächsbedarf bestehe, erläutert Petra Leimer-Kastan, Sprecherin von Oberbürgermeister Reiter. Einen neuen Termin gibt es noch nicht.

Hört man sich auf den Gängen des Planungsreferats um, wird mit Nachdruck betont, wie viel Verständnis man für die Ängste im Norden habe und dass man diese Ängste ausräumen möchte. Andererseits ist zu beobachten, wie überzeugt die Verwaltung von dem Projekt ist; und über manche Entwicklung schüttelt man im Referat den Kopf. Ein Stadtratsantrag fordert etwa, die Mitwirkungsbereitschaft der Eigentümer in den Flächen zu ermitteln: Das zu untersuchen, sei doch Anliegen des Referats, dem die Mitarbeiter erst mit dem Einleitungsbeschluss nachkommen könnten.

"Heimatboden" hat seine Ablehnung schwarz auf weiß dokumentiert, notariell beglaubigt stellen fast alle Landwirte und privaten Eigentümer in einer Unterschriftensammlung fest, dass sie keine SEM wollen, aber zu einer Entwicklung nach dem Modell einer "Sozialgerechten Bodennutzung" (Sobon) bereit wären. Trotz der ausgesprochenen Ablehnung kommt die Unterschriftensammlung in der Verwaltung gut an - schließlich signalisieren die Eigentümer, dass sie ihre Flächen überhaupt entwickeln wollen. Die zwei größten Vorwürfe vonseiten der SEM-Gegner will die Stadtverwaltung entkräften.

Im äußersten Fall kann die Stadt für die SEM einzelne Eigentümer enteignen, um an deren möglicherweise benötigte Flächen zu kommen. "Ziel der Stadt ist es, städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen ohne Enteignungen durchzuführen", sagt Stadtbaurätin Elisabeth Merk dazu. Den Landwirten bereitet dies immer noch Unbehagen - ein Ziel ist keine Garantie. Und letztere hat die Stadt bisher nicht gegeben.

Durch ihre Ankündigung hat die Stadt außerdem festgelegt, dass der Bodenpreis im SEM-Gebiet auf dem aktuellen Niveau bleibt. Mit diesem Schritt will die Stadt Spekulationen verhindern. Sie fürchtet eine Kettenreaktion in Folge der Ankündigung: Die neuen Großpläne könnten Investoren anlocken, die auf dem nun potenziellen Bauland möglichst hohe Profite erzielen wollten. Mit dem Einfrieren des Preises hat die Stadt dem einen Riegel vorgeschoben, der erst zum Schluss der Planungen wieder aufgehoben wird. Wenn die Ackerflächen zu Bauland werden, entsteht der dann aktualisierte Wert der Flächen, aus dem sich das SEM-Budget ergibt.

Stefan Hausler zieht Kräuter und Gemüse für Münchner Märkte. Ihn wurmt, dass die Stadt nicht direkt mit ihm spricht. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Infolge des eingefrorenen Bodenpreises ist der Vorwurf entstanden, die Stadt wolle die Eigentümer mit zehn Euro pro Quadratmeter abspeisen - der Betrag, bei dem der Bodenpreis aktuell steht; eine Entschädigung auf diesem Niveau würde bei Weitem nicht ausreichen, um einen Betrieb an anderer Stelle neu anzusiedeln. In der Stadtverwaltung widerspricht man mit Bestimmtheit. "Diese Befürchtungen entbehren jeder Grundlage", sagt Stadtbaurätin Merk. Die Stadt wolle vielmehr mit allen Eigentümern in Kooperation eine Entwicklung vereinbaren und die dann entwickelten Flächen den Eigentümern als werthaltige Baugrundstücke zurückgeben. "Bei diesem Verfahrensweg müssen die Eigentümer nicht entschädigt werden, sondern können bei den aktuellen Entwicklungen am Bodenmarkt mit einem zusätzlichen, wesentlichen Wertzuwachs ihrer Flächen rechnen, ohne selbst ein wirtschaftliches Risiko tragen zu müssen."

Im Planungsreferat heißt es, man wolle eine "gewisse Höhe" des Wertzuwachses garantieren; bei einer Entwicklungsmaßnahme in der Stadt Freiburg beispielsweise sei der Preis bei 15 Euro pro Quadratmeter eingefroren worden, zum Schluss erhielten die Bauern 75 Euro pro Quadratmeter. Eine ähnliche Entwicklung im Fall der SEM-Nord sei angesichts der "robusten Konjunktur" Münchens sehr wahrscheinlich und würde "vielfach höher" ausfallen. Das ist manchem zur Entwicklung seiner Flächen bereiten Grundstückseigner in Feldmoching zu vage, da der Quadratmeter Bauland in München üblicherweise vierstellig honoriert wird - und unklar ist, wie hoch der Ertrag im SEM-Verfahren ausfallen wird. Ob der Gewinn am Ende ausreicht, um die Eigentümer zu befriedigen? Die Stadtverwaltung betont, die SEM habe überhaupt nur Chancen auf eine Realisierung, wenn sichergestellt sei, dass am Ende auch die Eigentümer partizipieren.

Vom Boom der Stadt München bekommt man in Ludwigsfeld nicht viel mit. Ein paar Baustellen sind zu sehen, zu Stoßzeiten verlagert sich ein Teil der Verkehrsflut in das Viertel, das zwischen Rangierbahnhof und Autobahn versteckt ist; aber sonst herrscht dort Ruhe. Das Bild der 1802 entstandenen Kolonie prägen grüne Landschaft, saftige Äcker und Gärtnereien. Das könnte sich ändern, wenn dort gebaut wird. Andreas Grünwald sagt jetzt schon: "Wir sind handlungsunfähig." Der Name Grünwald gehört seit 1850 zu Ludwigsfeld. Damals hatte der Ururgroßvater von Andreas Grünwald dort geheiratet. Im vorvorletzten Jahrhundert noch ein kleiner Bauernhof "mit a bissl Viehzucht", meint Grünwald, leben heute auf dem Hof 60 Milchkühe, 40 Mastbullen, 100 Jungkälber, 60 Hühner und vier Katzen.

Wenn der junge Grünwald in Arbeitslatzhose über den Hof der Familie führt, zeigt er einen mittelständischen Landwirtschaftsbetrieb, der sich seinen Status in den vergangenen zwei Jahrzehnten von Neuem erkämpft hat. Als Pfanni, einer der Hauptabnehmer von Feldmochinger Kartoffeln, in den 1990er-Jahren die eigens für Knödeltauglichkeit gezüchteten Kartoffeln nicht mehr abnahm, traf das die Feldmochinger Landwirtschaft hart. Einige Höfe wurden stillgelegt, der Rest sattelte um, die Grünwalds zum Viehbetrieb.

Heute liefern sie Milch an ein Schokolade-Unternehmen in Ingolstadt und Fleisch an den Schlachthof an der Poccistraße. Die Halle zum Melken, die kleinen Silos für die Kälber, die Scheune, all die Investitionen hat der Betrieb auch mit Krediten finanziert. Die Familie ist überzeugt, dass die Banken ihnen keine Unterstützung mehr gewähren würden, wenn ihre Zukunft unklar ist: Gibt es den Betrieb dann noch? Und wenn bei ihnen gebaut wird? Wer bürgt dann für die Investition?

Begibt sich Andreas Grünwald auf die andere Straßenseite gegenüber dem Hof, steht er vor einem Teil der Ackerflächen der Familie, bis zum Horizont zieht sich fruchtbarer Boden. Die Familie ist mit 85 Hektar im Umgriff betroffen. Wenn die Stadt Flächen benötigt, wollen die Bauern Ersatzland - das es aber nicht gebe, sagt Grünwald. "Der Pachtmarkt ist komplett überlastet." Flächen im Landkreis seien nicht geeignet, zu weit vom Hof entfernt. Die Stadt denkt zum Beispiel über den Tausch mit vorhandenen eigenen Flächen nach; während der Planungszeit will sie zudem Flächen erwerben und den Bauern anbieten. Grünwald winkt ab. "Wir wollen in Ludwigsfeld bleiben. Das ist meine Heimat. Wo ich groß geworden bin."

© SZ vom 29.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: