Umzüge:Immer mehr Münchner gehen in den Osten

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Die Badeseen im Münchner Umland vermissen Angelika und Martin Fritzsche, aber ansonsten können sie ihrem Sohn Liam in Leipzig ein besseres Leben bieten als in Bayern - mit mehr Geld und weniger Arbeitszeit. Foto: privat (Foto: privat)

Inzwischen ziehen mehr Menschen in die neuen Bundesländer, als umgekehrt hierher kommen. Familie Fritzsche steht für diesen Trend - und freut sich nun über 700 Euro mehr im Monat.

Von Anna Hoben

Was die Biergärten betrifft, kann Leipzig mit München nicht mithalten. Die Biergartenkultur, sie gehört zu den Dingen, für die Martin Fritzsche München mochte. Und trotzdem sagt er: "Die Lebensqualität hat sich deutlich verbessert." Für ihn, seine Frau Angelika und den gemeinsamen Sohn Liam. Vor knapp einem Jahr ist die Familie nach Leipzig gezogen. Es war eine Art Rückkehr: Martin Fritzsche stammt aus dem Erzgebirge, seine Frau aus Thüringen.

Schon nach seinem dualen Studium an der Zoll-Hochschule in Münster wollte der heute 32-Jährige eigentlich wieder nach Sachsen. Er kam nach Augsburg. Dann wurde in München eine Stelle bei der Zollfahndung frei, die ihn reizte. Fünf Jahre blieb er. Knüpfte Freundschaften, lernte seine Frau Angelika kennen, die auch beim Zoll arbeitet, und gründete eine Familie.

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Zog aus seiner WG aus, in eine Wohnung in Obermenzing. Es hat ihnen immer gut gefallen hier - wenn nur nicht alles so teuer gewesen wäre. "Wir hatten Fixkosten von 2700 Euro im Monat, und davon waren noch keine Windeln bezahlt." Und dann wolle man ja noch "ein bissl leben".

Als Zollbeamte verdienen Angelika und Martin Fritzsche gleich viel, egal ob sie in München oder in Leipzig arbeiten. Seit dem Umzug bleiben ihnen monatlich 700 Euro netto mehr. Für den Krippenplatz ihres dreijährigen Sohnes bezahlen sie nun 211 Euro statt 750. Für die Miete werden 1070 Euro fällig statt 1300; kein riesiger Unterschied, dafür ist die neue Wohnung schöner und frisch renoviert. Diese Dinge meint Martin Fritzsche, wenn er von "mehr Lebensqualität" spricht. Einerseits. Das andere ist die Familie. Liams Großeltern wohnen nun zwar nicht nebenan, aber nur noch eine beziehungsweise anderthalb Stunden entfernt. "Für ihn ist es schön, dass er sie öfter sieht."

Mit ihrer Rückkehr nach Sachsen stehen Angelika und Martin Fritzsche für einen Trend. Das zeigen die Daten des Statischen Amtes München. Die Zuzugszahlen aus den neuen Bundesländern sind zwischen 2000 und 2016 um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Zudem finden die Umzüge mittlerweile immer häufiger auch in die andere Richtung statt. Zogen im Jahr 2000 gerade mal 1289 Menschen von München in eines der fünf neuen Bundesländer, waren es 2016 bereits 2539 - mehr als umgekehrt hierher kamen.

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Diese Entwicklung, die sich in München im Kleinen zeigt, hat im vergangenen Jahr auch eine Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im Großen untersucht. Die Forscher beschäftigten sich dafür mit der Ost-West-Wanderung insgesamt. "Das Phänomen ist in den aktuellen Wanderungsdaten zwar immer noch persistent", heißt es da, "allerdings sind die Zahlen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen". 2014 zum Beispiel zogen nur noch 3300 Menschen mehr vom Osten in den Westen als umgekehrt.

Seit dem Jahr 1991 ging laut der Studie die Ost-Westwanderung zunächst von rund 165 000 auf 25 000 Personen im Jahr 1996 zurück. Weil die wirtschaftliche Situation im Osten jedoch schwierig blieb und Jobs fehlten, stieg die Zahl bis 2001 erneut bis auf 98 000 an; es war die Zeit, als westdeutsche Unternehmen eigens in den neuen Bundesländern inserierten, um Azubis anzuwerben.

Mit Erfolg: Ende der Neunzigerjahre kam etwa bei Vinzenzmurr der Großteil der Lehrlinge aus Ostdeutschland. Nach der Wende haben Sachsen, Thüringer, Sachsen-Anhalter, Brandenburger, Mecklenburger und Vorpommern westdeutsche Städte mitgeprägt. In München kann man es vielerorts sächseln hören: aus den Lautsprechern in der U-Bahn, beim Bäcker, in Behörden.

Vom Jahr 2001 an sank der Wanderungssaldo dann sukzessive. Diese Entwicklung führen die IW-Forscher nicht nur darauf zurück, dass weniger Menschen aus dem Osten abwandern, sondern auch darauf, dass es mehr Rückwanderer gibt - das deckt sich mit den Münchner Daten. Im Osten profitieren vor allem die Metropolregionen von Leuten wie Angelika und Martin Fritzsche, etwa die um Leipzig und Dresden. Beide Städte wachsen.

Angelika und Martin Fritzsche gehören einer Generation an, welche die DDR nur noch wenige Jahre als Kind erlebt hat und das verschwundene Land hauptsächlich aus Erzählungen kennt. Sie sind in einem vereinigten Deutschland aufgewachsen. Doch manche kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West wirken bis heute nach, das haben sie in München gemerkt, das merken sie auch jetzt wieder. In Bayern sei ihm häufig die Meinung begegnet, dass eine Mutter sich die ersten Jahre zu Hause um das Kind kümmern solle, sagt Martin Fritzsche.

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Er und seine Frau finden, dass Liam in der Kita sehr gut aufgehoben ist: "Von älteren Kindern kann er sich viel mehr abgucken als von uns." Trotzdem haben beide ihre Arbeitszeit auf 36 Stunden reduziert, um mehr Zeit füreinander und für ihren Sohn zu haben. Der habe vom Umzug vor einem Jahr übrigens kaum etwas mitbekommen. "In der Kita nehmen die Kinder sich gegenseitig die Autos weg und schubsen sich um." Das ist in München nicht anders als in Leipzig.

Für die erwachsenen Generationen spielen die Unterschiede zwischen Ost und West teilweise noch eine größere Rolle. Auf Facebook gibt es alle möglichen Gruppen, die dem Zusammenschluss mit Herkunftsgeschwister, Ähnlich-Sozialisierten und Dialektsprechern dienen, irgendwie wohl auch der Selbstvergewisserung: "Schwaben in Berlin", "Ruhrpottler in Hamburg", "Saarländer in aller Welt". Und eben auch "Ossis in München". "Nirgends ist ein Ossi stärker mit seinem Ossisein konfrontiert als in München", hat eine Reporterin in der Zeit einmal geschrieben.

Der Austauschbedarf ist jedenfalls da. 1760 Mitglieder hat die Gruppe und viele Funktionen: Mitfahrbörse, Kennenlernportal, gelegentlich Ostalgieverteiler. Neulich hat jemand ein Bild mit DDR-Gerichten gepostet: "Goldbroiler mit Kartoffelstäbchen", "Tote Oma", "Kalter Hund", das gefällt vielen. Die Diskussionen drehen sich meist um Fragen des Heimischwerdens in der Fremde, darum, ob es früher im Osten ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl gegeben hat und darum, was an der Ellbogisierung der Gesellschaft schuld ist, der Kapitalismus im Allgemeinen oder Bayern/München im Speziellen. Darum, ob man bleiben will oder zurückgehen.

Die Fritzsches sind gegangen - und angekommen in Leipzig. Was sie vermissen von München und seinem Umland? Die drei B: Berge, Biergärten, Badeseen.

© SZ vom 22.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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