SZ-Adventskalender:Mit den anderen zur Sprachtherapie

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Die Integra-Kitas in Taufkirchen bemühen sich, jedem Kind gerecht zu werden

Von Christina Hertel, Taufkirchen

Da ist Paul, der Autist. Irgendwann am Nachmittag wird ihm immer alles zu viel. Er rastet aus. Da ist Ella, die nicht richtig sprechen kann. Und Fritz, der mit seinem Essen umher wirft.

Mit Paul geht seit kurzem jeden Tag ein Ehrenamtlicher spazieren. Eine Stunde lang, danach ist er beruhigt. Ella besucht seit einiger Zeit die Sprachtherapie, seitdem geht das Sprechen besser. Und für Fritz schieben die Erzieherinnen die Tische auseinander, bei ihm sitzen jetzt nur noch ein paar Kinder. Seitdem isst er mit Messer und Gabel.

Eigentlich heißen die Kinder anders. Sie besuchen den Kindergarten oder die Krippe des Vereins Integra in Taufkirchen. Dort spielen, essen, lesen und schlafen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam. Die Erzieherinnen versuchen einen Raum zu schaffen, in dem es allen möglichst gut geht und in dem alle möglichst gleich behandelt werden. Zur Sprachtherapie muss Ella deshalb nicht alleine. Alle Kinder nehmen daran teil. "Es hilft ja allen", sagt Brigitte Haas, die Geschäftsführerin des Kindergartens. Die Kinder würden ein besseres Gefühl für Sprache bekommen, einen "Appetit auf Geschichten".

Nur zahlt das der Bezirk Oberbayern nicht. Der Verein muss das Angebot aus eigener Tasche tragen. Ebenso wie den Ehrenamtlichen, der mit dem Autisten Paul spazieren geht. "Es gibt so Grauzonen, für die sich sonst niemand verantwortlich fühlt", sagt Haas. "Aber wir versuchen, alles immer irgendwie möglich zu machen." In solchen Fällen allerdings ist die Einrichtung auf Spenden angewiesen.

Der Verein wurde 1991 von befreundeten Eltern gegründet, die Kinder mit und ohne Behinderung hatten. Sie ärgerten sich, dass ihre Kinder nicht gemeinsam in den Kindergarten gehen konnten. Sie gründeten den Kindergarten "Tranquilla Trampeltreu" - benannt nach dem Kinderbuch von Michael Ende, in dem eine Schildkröte beharrlich versucht, ihr Ziel zu erreichen. Der Schildkröte in dem Buch gelingt das - Schritt für Schritt. Und so ist es auch gelungen, das Angebot von Integra nach und nach auszubauen. Heute gehören zwei Krippen und ein Kindergarten, ein Familienzentrum mit Café, eine Mittagsbetreuung für Schulkinder und eine Beratungsstelle für Familien dazu.

Der Kindergarten "Tranquilla Trampeltreu" und eine Kinderkrippe, in der aber nur Buben und Mädchen ohne Behinderung betreut werden, befinden sich in einem modernen Gebäude. Vor vier Jahren baute es die Gemeinde Taufkirchen dem Verein. Es gibt einen Garten, eine kleine Turnhalle und Küchen in den Gruppenräumen.

"Die Pädagogen sind nicht da, um irgendwelche Angebote für die Kinder zu machen, sondern um zu schauen, was brauchen sie eigentlich?", sagt Brigitte Haas. Und das sei von Kind zu Kind ganz verschieden. Vor kurzem hätten die Erzieher überlegt, wie sie einem Kind helfen könnten, das extrem schüchtern war und nicht aus sich herauskam. "Wir würden ihm gerne Spielpuppen kaufen. Vielleicht schafft er es, seine Gefühle über die Puppen zu äußern." Für andere Kinder würden Brigitte Haas und ihre Kollegen gerne ein Weidentipi für den Garten bauen.

Wer in dem Kindergarten eine Behinderung hat und wer nicht, sieht man auf den ersten Blick nicht. "Wir haben auch Kinder, denen eine seelische Behinderung droht", sagt Brigitte Haas. Jungen und Mädchen mit drogenabhängigen oder kranken Eltern, die plötzlich beginnen, sich auffällig zu verhalten - den Kopf gegen die Wand schlagen zum Beispiel. "Wir müssen immer schauen: Was ist der Auslöser dafür?", sagt Brigitte Haas. Anstrengend hört sich das an - für die Erzieherin sei es aber Alltag: "Bei uns ist es normal, verschieden zu sein."

© SZ vom 05.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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