Integration:Vom Flüchtling zum Helfer

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Slim Boutaieb aus Tunesien gibt Integrationskurse. Und erzählt dabei von seinen eigenen Erfahrungen als Flüchtling. (Foto: Catherina Hess)

Salim Boutaieb kam 1992 aus Tunesien nach Deutschland. Seit fünf Jahren lebt er mit seiner Familie in Ismaning. Seine Erfahrung in Sachen Integration gibt er jetzt in Vorträgen an die Schutzsuchenden von heute weiter

Interview von Irmengard Gnau, Landkreis

Salim Boutaieb-Grosch weiß, wie es ist, in einem fremden Land anzukommen. 1992 kam der gebürtige Tunesier nach München, seit fünf Jahren lebt er mit seiner deutschen Frau und zwei Söhnen in Ismaning, wo der Elektroniksanierer in der Logistikabteilung einer Firma arbeitet. Im vergangenen Jahr begann Boutaieb-Grosch, vor Flüchtlingen Vorträge zum Thema Integration zu halten, basierend auf seinen eigenen Erfahrungen als Neuankömmling aus einem arabischen Land.

Er sprach in Ismaning, Unterföhring und Unterschleißheim, inzwischen wird er mit seinem Vortrag auch über die Landkreisgrenzen hinaus gebucht. Ein Kurzinterview in der Januar-Ausgabe des Spiegels brachte ihm viel Aufmerksamkeit ein.

SZ: Was bedeutet für Sie Integration ?

Salim Boutaieb-Grosch: Zentral ist: Integration ist ein großes Paket, aus Offenheit, Sprache, Kultur, Gesetzen und Regeln. Integration heißt für mich zuallererst Offenheit - ein Mensch öffnet sich für eine andere Welt, das andere Land, für die dortigen Regeln, die Gesetze und die Kultur. Und natürlich dafür, die Sprache zu lernen.

Sie sind 1992 aus ihrer Heimat Tunesien nach Deutschland gekommen. Was hat Ihnen dabei geholfen, Deutsch zu lernen?

Als ich nach Bayern kam, habe ich in Ismaning eine Arbeitsstelle als Elektroniksanierer gefunden. In der Firma wurde ich akzeptiert - natürlich hatte ich erst einmal Probleme mit der Sprache, aber in der Arbeit hatte ich jeden Tag mit Deutschen zu tun, wir haben den ganzen Tag Deutsch gesprochen. Abends habe ich in einem Vhs-Kurs die Grammatik gelernt und tagsüber praktiziert. In der Firma habe ich zum Beispiel die Namen der Werkzeuge gelernt, die braucht man dort ja jeden Tag.

Die Sprache zu lernen ist elementar in einem neuen Land.

Ja. Dadurch gewinnt man viel Selbstvertrauen. Wer nicht kommunizieren kann, hat eine Blockade und tut sich schwer, mit anderen in Kontakt zu kommen. Natürlich spricht man erst einmal gebrochen. Aber wenn dich andere korrigieren, verbessert sich das. Aber wer keinen Kontakt mit Menschen hat, tut sich schwer, die Sprache zu lernen. Was bringt es, wenn ich als Syrer zwei Stunden lang einen Deutschkurs besuche und danach gehe ich zurück in meine Unterkunft, in der 200 andere Syrer leben, die alle mit mir Arabisch sprechen? Es fehlt der Kontakt mit den Deutschen.

Was war für Sie der Auslöser dafür, sich direkt an die Flüchtlinge zu wenden?

Meine Frau hat mich darauf gebracht. Ich halte schon lange in einem Tagebuch meine Erfahrungen fest. Gemeinsam mit meiner Frau habe ich überlegt, was für mich selbst zentral war zur Integration und daraus einen Vortrag gemacht, den ich dann der Leiterin unseres Helferkreises gezeigt habe. Sie war begeistert. Vor allem, weil ich keinen spröden Infoabend veranstalte - alles kommt aus meiner Seele.

Sie sprechen die Asylbewerber direkt an.

Ich sage ihnen: Hier in Deutschland herrscht eine andere Mentalität als in euren Heimatländern. Vergesst, wie ihr es in eurer Heimat gemacht habt, hier macht man es auf eine andere Art. Wenn du in einem fremden Land lebst, bist du Gast. Ich bin seit 24 Jahren in Deutschland und ich bin immer noch Gast. Wenn ein Gastgeber mir die Arme öffnet, ist es wichtig, das anzunehmen und dankbar zu sein. Und wenn er von mir verlangt, die Sprache zu lernen und die Regeln, dann muss ich das tun.

Wie reagieren die Flüchtlinge auf Ihr Angebot?

Die Flüchtlinge nehmen gerne Rat von mir an. Ich spreche ihre Sprache und bin hier integriert, daher bin ich eine Art Vorbild für sie. Ich erreiche die Menschen mit meiner Botschaft, weil ich ihnen klar mache: Ich will euch nach vorne bringen.

Ihr Vortrag trägt den Titel "Die Neugeborenen". Warum dieses Bild?

Für die Flüchtlinge ist das Ankommen wie eine neue Geburt. Sie müssen alles von vorne lernen, wie kleine Kinder. Auch die müssen Regeln lernen, Gesetze, die Kultur, die Sprache. Das müssen die Flüchtlinge auch. Ich ermutige sie immer, sich zu trauen, sich zu öffnen, zu sprechen. Damit sich keine Blockade aufbaut. Es ist ok, wenn man Zeit braucht - aber der Wille muss da sein.

Ist die Blockade zwischen Einheimischen und Flüchtlingen heute größer als früher?

Ja. Und vor allem aus einem Grund. Als ich vor 24 Jahren hier ankam, hat mich niemand nach meiner Religion gefragt. Heute hat sich die Mentalität geändert. Viele Deutsche haben ein schlechtes Bild von Moslems. Aber ich betone immer: Was der sogenannte IS tut, hat mit uns Moslems nichts zu tun! Wir sind nicht so. Sehen Sie mich an, ich bin Moslem, ich bin integriert in Deutschland, ich bezahle meine Steuern, wir können zusammen feiern und trauern. Die Flüchtlinge suchen hier Frieden.

Gibt es typische Probleme oder Fragen, die die Asylbewerber haben?

In den Traglufthallen, die ich kenne, gibt es manchmal Probleme mit Gewalt. Dort leben 250 Personen mit verschiedenen Kulturen und Religionen, sie sind den ganzen Tag in der Halle, da geht man sich irgendwann auf die Nerven. Den Bewohnern dort versuche ich klar zu machen, dass verschiedene Religionen hier in Deutschland nebeneinander existieren und dass das ganz normal ist: Christen, Juden, Moslems und so weiter, wir arbeiten zusammen, wir essen im Restaurant zusammen, wir gehen zur Universität zusammen. Einige kennen das nicht aus ihrer Heimat. In meiner Kindheit in Tunesien habe ich beispielsweise neben italienischen katholischen Nonnen gelebt, im jüdischen Lokal waren wir beim Essen, das war ganz normal. Aber in anderen Staaten, zum Beispiel in Afghanistan, sind viele keine anderen Religionen gewöhnt. Sie müssen das erst lernen. Außerdem erkläre ich oft, wie das Zusammenleben von Mann und Frau hier in Deutschland funktioniert, dass es zum Beispiel völlig in Ordnung ist, wenn ein Mann und eine Frau zusammenleben ohne verheiratet zu sein.

Wo gibt es häufig Missverständnisse zwischen deutscher und arabischer Kultur?

Es gibt unglaublich viele Helfer, die sich engagieren. Ich bin selbst im Helferkreis in Ismaning aktiv und ich bin sehr dankbar für dieses unglaubliche Engagement. Aber die Helfer sind teilweise überfordert, denn sie kennen die arabische Kultur nicht. Eine Ehrenamtliche fragte mich zum Beispiel neulich um Rat. Sie bietet einen freiwilligen Deutschkurs für Flüchtlinge an, doch nach zwei Wochen kam plötzlich keiner der zwölf Teilnehmer mehr. Ich habe ihr dann erklärt: In der Mentalität vieler Araber und Afrikaner hat man immer einen Herrscher: zu Hause Vater und Mutter, in der Schule den Lehrer, in der Arbeit den Chef. Die Helfer versuchen es mit Freiwilligkeit. Es braucht aber ein bisschen Druck. Man muss den Flüchtlingen klar machen: Wenn du dir in Deutschland deine Zukunft aufbauen willst, dann verlange ich, dass du zuallererst die Sprache lernst.

Finden Sie, es müsste auch von Seiten des Staates mehr Druck geben?

Ja, das denke ich. Die Mentalität der Freiwilligkeit kennen viele Flüchtlinge nicht, für sie heißt "freiwillig", da gehe ich nicht hin. Aber Angebote, die mich nach vorne bringen, muss ich nutzen.

Wie sieht es aus mit den Rollen von Mann und Frau?

Ein ganz wichtiger Punkt. Ich erkläre klipp und klar, dass Männer und Frauen hier gleich sind: Frauen und Männer können Fußball spielen, Männer und Frauen können putzen. Die einzigen Orte, wo wir trennen, sind Dusche und Toilette.

Fällt das den Männern schwerer zu akzeptieren oder den Frauen?

Die Frauen schauen meistens erst einmal ihre Männer an, wenn ich das erkläre. Viele sind es aus ihrer Heimat nicht gewöhnt, dass sie auch etwas zu sagen haben. Hier weht ein anderer Wind, das mache ich auch den Männern klar.

Wie könnten Einheimische besser auf Flüchtlinge zugehen?

Ein Schriftsteller aus Kanada hat einmal gesagt: Mich interessiert nicht, was eine Frau auf dem Kopf hat, sondern was sie im Kopf hat. Das ist ein guter Leitspruch. Außerdem will ich auch einen Kurs für Helfer anbieten, damit sie ein besseres Verständnis für die arabische Kultur bekommen. Das ist wichtig, weil bald der Ramadan kommt. Von 6. Juni bis 4. Juli ist Ramadan, viele Moslems werden tagsüber fasten. Wenn der Mensch den ganzen Tag über nichts isst, wird er leicht aggressiv. Die übrigen essen, trinken, rauchen währenddessen. Das kann schwierig werden, darauf sollten wir vorbereitet sein.

Kann die Integration der Flüchtlinge in Deutschland gelingen?

Ich bin fest überzeugt, dass es gelingen wird. Integration ist ein Paket, ich betone es immer wieder, aus Offenheit, Sprache, Kultur, Gesetz und Regeln. Die Sprache ist das A und O, aber Integration braucht mehr, und das fordert großen Einsatz von den Menschen.

Was würden Sie verbessern, wenn Sie könnten?

Ich wünsche mir mehr Vertrauen von den deutschen Behörden in uns sehr gut integrierte Ausländer. Es gibt viele gut Integrierte, die sich engagieren würden, die die Kultur und Sprache der Flüchtlinge kennen genauso wie die deutsche Sprache und Kultur. Ich denke, es wäre sinnvoll, Vorträge wie meinen flächendeckend anzubieten, um möglichst alle Flüchtlinge zu erreichen und damit zu einer gelungenen Integration beizutragen.

Helferkreise können per E-Mail (slim.boutaieb@hotmail.de) Kontakt mit Salim Boutaieb-Grosch aufnehmen.

© SZ vom 29.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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