Kostenvergleich:Sauteuer, na und?

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In Tirschenreuth bekommt man mehr für sein Geld. (Foto: SZ-Grafik: Mainka; Quelle: eigene Recherchen, IVD, HUK)

Nirgends kostet das Leben mehr, nirgends leben die Leute lieber: München im Vergleich mit Tirschenreuth, der billigsten Stadt Deutschlands.

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Wer als Münchner nach Tirschenreuth fährt und am Marktplatz sein Auto abstellt, den macht dieser Ort erst mal misstrauisch: kein Parkscheinautomat, weit und breit nicht. Lieber noch mal die Straße entlang laufen, lieber noch mal genau schauen, lieber keinen Strafzettel riskieren. Aber tatsächlich: Kostet nix. Also rüber zum Markt, vorbei am Metzgerstand, der auf einer Tafel wirbt: "Leberkässemmel 1,35 Euro." Aha, ein Lockangebot, der süße Senf kostet bestimmt extra, besser schnell weiter, rüber ins Rathaus, rein in Franz Stahls Arbeitszimmer.

Franz Stahl, 55, ist Bürgermeister von Tirschenreuth, einer Stadt mit etwa 8700 Einwohnern im östlichen Zipfel der Oberpfalz. Der Bürgermeister ist ein drahtiger Mann mit Brille, das graue Haar kurz und akkurat geschnitten. Erst gestern war er beim Friseur, hier im Ort, für zehn Euro. "Ein Euro ist in München eben 60 Cent wert und hier 1,40 Euro", sagt Franz Stahl. Das ist einerseits ein Schmarrn, denn der Eurokurs ist in München natürlich derselbe wie in Tirschenreuth. Andererseits gibt es da jetzt diese Studie, die ausgedruckt auf dem Besprechungstisch in Stahls Arbeitszimmer liegt.

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Die Studie stammt vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und sagt, dass in München ein Alleinstehender als arm gilt, wenn er weniger als 1106 Euro im Monat zur Verfügung hat. In Tirschenreuth dagegen, auch das sagt die Studie, gilt ein Single erst bei einem Einkommen unter 818 Euro als arm.

Das bedeutet: Nirgendwo in der Bundesrepublik bekommt ein Arbeitnehmer in seiner Stadt so viel für seinen Lohn wie jemand, der in Tirschenreuth lebt. Und niemand bekommt in seiner Stadt so wenig für seinen Lohn wie ein Münchner. Denn vieles in München ist so teuer, dass auch die vergleichsweise hohen Löhne das hohe Preisniveau nicht ausgleichen können.

Die IW-Studie zeichnet eine verkehrte Welt: Das angeblich doch so reiche München ist insgeheim arm und eine Kleinstadt in der Oberpfalz, früher Bayerns Armenhaus, soll plötzlich die reichste aller deutschen Städte sein? Nein, sagt Franz Stahl, "man kann doch München und Tirschenreuth nicht vergleichen". Er weiß, dass das vermessen wäre. Er weiß aber auch, dass der wirtschaftliche und kulturelle Reichtum einer Stadt nicht automatisch bedeutet, dass auch deren Einwohnern reich sind. "Was hilft mir eine Staatsoper, wenn ich so viel Geld für Miete ausgeben muss, dass ich mir nicht mehr leisten kann, in die Staatsoper zu gehen", sagt der Tirschenreuther Bürgermeister.

In der Tat ist es schön und gut, wenn man innerhalb des Mittleren Rings in München wohnt und in wenigen Minuten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln am Nationaltheater ist. Selbst eine Taxifahrt ist noch erschwinglich - oft anders als auf dem Land, wo deutlich weitere Strecken anfallen. Doch inzwischen gehen, da hat Stahl Recht, sowohl die Preise für Mieten als auch für Wohneigentum durch die Decke.

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16,30 Euro Kaltmiete je Quadratmeter hat der Maklerverband IVD zum Beispiel als Durchschnittsmiete für eine Altbauwohnung mit gutem Wohnwert errechnet. Guter Wohnwert heißt nicht Luxuswohnung, sondern bedeutet nur, dass das Domizil von der Ausstattung und der Lage her gehobener Durchschnitt ist.

Der Traum von der Altbauwohnung, womöglich gar als Eigentum, rückt für die Mittelschicht allmählich in weite Ferne. Wer sichnoch vor zehn Jahren in der Isarvorstadt einen Altbau für etwa 3500 Euro pro Quadratmeter leisten konnte, muss inzwischen das Doppelte oder mehr hinlegen. Es gibt Menschen, die das tun und ihr Geld durch hohe Mieten wieder reinholen wollen. Das wirkt sich dann auch auf die Pachten von Gaststätten aus. Unter drei Euro ist die Halbe Bier nur noch in Boazn in weniger zentralen Lagen zu haben. Im Zentrum selbst kostet das Bier in den meisten Fällen schon vier Euro - und mehr.

In Tirschenreuth isst Franz Stahl inzwischen zu Mittag, in der Stube im Gasthof "Goldener Anker". Er sitzt auf einer Eckbank, neben ihm ein Kachelofen, hinter ihm im Herrgottswinkel ein handgeschnitztes Kruzifix. Die Halbe Helles kostet hier 2,40 Euro, ein kleines Weißbier 1,80 Euro. "Ich fahre gern nach München, das ist eine tolle Stadt", sagt Stahl, "aber mir geht es am besten, wenn ich aus München wieder rausfahre und die Allianz-Arena links liegen lasse". Er ist in Tirschenreuth geboren, er ist hier aufgewachsen, er hat die Provinz nie verlassen. "Das war für mich nie ein Thema", sagt Stahl.

Er hat die Zeit vor der Jahrtausendwende erlebt, als die Oberpfalz noch der darbende Rand Bayerns war, nirgendwo im Freistaat gab es damals so wenige Jobs. Und als Bürgermeister hat er, seit 2002, den Aufschwung der Region mitgeprägt. Mittlerweile liegt die Arbeitslosenquote im Kreis Tirschenreuth bei 3,9 Prozent - niedriger als in der Stadt München (4,4 Prozent).

Heute hat Tirschenreuth, wenn überhaupt, nur noch ein Problem: Die Einwohnerzahl nimmt ab. Vor zehn Jahren lebten hier noch knapp 9300 Menschen, im Jahr 2025 werden es laut Prognosen 8300 sein. Noch so ein Widerspruch, der sich da auftut zwischen dem großen München und dem kleinen Tirschenreuth: München ist sauteuer, trotzdem zieht die Stadt die Menschen an wie ein Magnet. Und Tirschenreuth? Ist spottbillig, aber nur wenige wollen dort wohnen. Auch in dieser Hinsicht ist Tirschenreuth das spiegelverkehrte Abbild Münchens.

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Das wächst inzwischen jedes Jahr um die dreifache Anzahl der Einwohner Tirschenreuths. Die 1,5-Millionen-Marke vom Mai 2015 ist inzwischen um mehr als 30 000 Menschen überschritten. Entsprechend voll sind die öffentlichen Verkehrsmittel, die Ufer der Isar und die Lokale. Dennoch steht München immer wieder in Ranglisten ganz vorne, wenn es um den Titel "lebenswerteste Stadt" geht.

Hört man Franz Stahl so reden, denkt man sich, dass die bei solchen Studien Befragten nur mal in die tiefe Oberpfalz schauen müssten, um ihre Meinung zu ändern. Die Landeshauptstadt "lockt die Leute an wie die Motten das Licht", sagt Stahl. Zurecht habe München eine enorme Strahlkraft, aber das Strahlen blende die Menschen halt auch.

Wer nicht genug Geld verdiene, um sich das enorme Kultur-, Freizeit- und Konsumangebot einer Metropole zu leisten, "der verbrennt irgendwann am hellen Licht", wie die Motten eben. Und die Erfahrung, nicht am Reichtum einer Stadt teilzuhaben, könne sehr schnell unglücklich machen, sagt der Tirschenreuther Bürgermeister.

Hier, in seiner Stadt, seien die Leute zufrieden. Bei einer Umfrage haben 90 Prozent der Tirschenreuther gesagt, dass sie die Entwicklung ihrer Stadt positiv bewerten. Es sei ja alles da, was man zum Leben brauche, sagt Stahl: ein Krankenhaus, Supermärkte, ein kleines Museumsquartier, ein Kino. Und dann gibt es noch diese hübsche Parkanlage, ein Überbleibsel der Landesgartenschau, die vor drei Jahren in Tirschenreuth stattgefunden hat.

Trotz der 20 Hektar winzig im Vergleich zum Englischen Garten - aber beim Freizeitwert gehe es ja nicht um Dimensionen, sagt Stahl. Wie hoch die Freizeitqualität in der Provinz ist, "das ist den Leuten oft gar nicht bewusst".

© SZ vom 13.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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