Jubiläum:Nachtisch auf zehn Uhr

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Vor 25 Jahren wurden die Südbayerischen Wohn- und Werkstätten für Blinde und Sehbehinderte gegründet. Derzeit finden am Roßtalerweg 175 Bewohner Arbeit, sie töpfern, weben und verpacken. Nun soll ein Anbau die Weichen für die Zukunft stellen

Von Hubert Grundner

Florian macht am liebsten große Schüsseln. Astrid hingegen hat das Gespür und die Geduld für filigrane Fitzelsachen. Und Manfred schleift halt gerne - die Tonformen, die in der Töpferei der Südbayerischen Wohn- und Werkstätten für Blinde und Sehbehinderte (SWW) in Obergiesing entstehen, gehen vor Brand und Glasur noch einmal durch seine Hände. Wer die drei so bei der Arbeit sieht, wie sie mit nach innen gerichtetem Blick die Tonklumpen kneten und rollen, drücken und streichen, wie sie im Material die künftige Form erspüren, dem vermittelt sich eine geradezu meditative Stimmung, die von ihrem Tun ausgeht - und Zufriedenheit. Den Rahmen dafür, dass mehrfach behinderte blinde oder sehbehinderte Menschen ein ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechendes Leben führen können, bieten die SWW seit mittlerweile einem Vierteljahrhundert. Bei einem Festakt am Donnerstag, 29. Juni, wird dieses Jubiläum am Roßtalerweg 2 gefeiert.

An diesem Tag ist aber noch ein gewöhnlicher Werktag. Und so werden bis zum Feierabend noch etliche sogenannte Esshilfeteller entstehen, deren Merkmal ein hochgezogener und nach innen überkragender Rand ist. Das macht sie insbesondere für Sehbehinderte zum Essen sehr gut geeignet - weshalb dieses Produkt aus den Obergiesinger Werkstätten deutschlandweit an andere Behinderteneinrichtungen verschickt wird. Es gibt aber auch Auftraggeber wie das Louis Hotel am Viktualienmarkt, für das nach japanischem Vorbild schwarze Teeschalen und Sushiplatten gefertigt werden.

Angeleitet werden Florian, Astrid, Manfred und die anderen dabei von der Keramikmeisterin Ulrike "Uli" Koppetsch. "Jeder Mitarbeiter hat seine eigene Handschrift, sein eigenes Design, seine eigene Technik", sagt sie. Die meisten ihrer Schützlinge seien schon sehr lange in der Töpferei, mancher schon an die 20 Jahre, weiß Koppetsch zu berichten. Und weg will hier keiner, wie die Runde auf eine entsprechende Frage plötzlich lautstark und fröhlich versichert.

Während den Mitarbeitern in den Werkstätten - neben der Töpferei zählen die Weberei, die Abteilung Spielfiguren, die Daten- und Aktenvernichtung sowie die Konfektionierung dazu - die Teilhabe am Arbeitsleben und/oder eine individuelle Lebensbewältigung ermöglicht werden soll, gelingt das leider nicht mit allen rund 175 Bewohnern der Einrichtung. Aufgrund der Stärke ihrer Behinderung steht bei einigen von ihnen nicht die Arbeitsleistung im Vordergrund, sondern eine sehr viel intensivere pädagogische und pflegerische Betreuung. Neben der alltäglichen Beschäftigung in den Förderstätten bemühen sich die Betreuer immer wieder um Abwechslung für die ihnen anvertrauten Menschen. "Wir gehen auch mal raus in den Garten oder zum Reiten und ins Harlachinger Schwimmbad", erzählt Robert Walther.

Zu den SWW kam der gelernte Krankenpfleger 2005 nicht zuletzt deshalb, weil im Gegensatz zu anderen Pflegeeinrichtungen am Roßtalerweg eine solche Form der Betreuung noch möglich ist. Worum sich Walther und seine Kolleginnen und Kollegen in den verschiedenen Wohngruppen bemühen, nennt sich "Tagesstruktur". Tatsächlich übt die für Außenstehende oft sinnlos erscheinende Beschäftigung mit einfachsten Dingen zu festgelegten Zeiten eine heilsame Wirkung auf die Patienten aus. Zustände der Unruhe bis hin zur Panik legten sich dann, autoaggressive Tendenzen träten deutlich seltener auf, erklären die Helfer.

Derzeit beschäftigen die SWW circa 300 Mitarbeiter als Voll- und Teilzeitkräfte, rund die Hälfte davon im Bereich Betreuung. Letztlich sind aber alle Angestellten darauf eingestimmt, in einem Haus mit Sehbehinderten zu arbeiten. "Die Leute in der Küche müssen wissen, dass man bestimmte Gerichte nicht kochen kann", nennt Kunigunde Frey, die Leiterin der Werkstätten, ein Beispiel. Und das, was gekocht wird, muss auf eine festgelegte Art auf den Speisetabletts arrangiert werden, nach dem Motto: Nachtisch auf zehn Uhr. Und die Hausmeister oder Reinigungskräfte müssten stets mitbedenken, dass sie beziehungsweise ihre Arbeitsstelle von den Bewohnern nicht gesehen werden. Im Alltag aber, so zumindest der Endruck, scheint das im Großen und Ganzen zu klappen. Überhaupt herrscht ein sehr familiärer Ton.

Trotzdem haben die SWW wie viele andere soziale Einrichtungen auch mit dem Fachkräftemangel zu kämpfen. Dabei habe das Haus attraktive Arbeitsplätze zu bieten, wie Frey betont. "Wir sind ständig in Bewegung und versuchen, am Ball zu bleiben und uns zu entwickeln." Offenbar mit Erfolg. Inzwischen habe man sich mehrfach mit Erfolg an europaweiten Projektausschreibungen beteiligt. Weshalb das in Obergiesing versammelte praktische Knowhow bei der Betreuung mehrfach behinderter Blinder inzwischen auch bei Experten im Ausland gefragt ist.

Der erste Schritt auf dem Weg dorthin ist im Mai 1992 gemacht worden. Damals wurden die Südbayerischen Wohn- und Werkstätten für Blinde und Sehbehinderte aus der Taufe gehoben. Es handelte sich dabei um eine Tochtergesellschaft der Blindeninstitutsstiftung Würzburg und des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbunds. Die SWW-Gründung war geradezu zwingend. Denn nachdem die Blindeninstitutsstiftung München vor rund 30 Jahren begonnen hatte, Kinder und Jugendliche bis zum Ende der Schulpflicht und dem Besuch der Berufsschulstufe zu begleiten, war bald klar: Am ersten Arbeitsmarkt würden sie kaum unterkommen. Diese Menschen mussten also aufgefangen werden, und das sollte eben in den SWW geschehen, wie sich deren Geschäftsführer Michael Lohner erinnert.

An dieser Ausgangslage hat sich bis heute wenig geändert. Am Blindeninstitut an der Winthirstraße würden derzeit circa 150 Schüler ausgebildet: "Die kommen alle irgendwann auf uns zu. Da müssen wir uns etwas einfallen lassen", sagt Lohner. Und während auf der einen Seite die Jungen nachrücken, nähern sich auf der anderen Seite die ersten SWW-Bewohner dem Rentenalter. Sprich, über kurz oder lang wird man wohl Seniorengruppen mit speziellen Angeboten gründen müssen. Doch, so Lohner, "wir sind voll hier, das ist unser Problem". Etwas Erleichterung könnte ein kleinerer Neubau schaffen, für den immerhin schon Baurecht besteht. Allerdings sei die Finanzierung nach dem Landesbehindertenplan schon zum zweiten Mal aufgeschoben worden. Der Baubeginn sei somit keinesfalls vor 2019 zu erwarten, moniert Michael Lohner. Man sieht, an Arbeit sollte es den SWW nach den ersten 25 Jahren auch in Zukunft nicht mangeln.

© SZ vom 27.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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