Isarvorstadt:Klasse gemacht

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In nur wenigen Monaten haben Kinder, Lehrer und Eltern der Tumblingerschule die Idee einer "Zeltschule" in einem Flüchtlingslager in Libanon in die Tat umgesetzt. Schon bald könnte das nächste Projekt anstehen

Von Franziska Gerlach, Isarvorstadt

Sie hätte mehr Fotos mitnehmen sollen, viel mehr. Denn an jedem der neun Tage, die Jacqueline Flory in Libanon verbracht hat, löcherten die syrischen Kinder sie mit Fragen. Wo ist München? Gibt es dort Kühe? Wie sieht die Tumblingerschule aus? Vor allem: Was sind das für Kinder, die die Plane so schön bemalt haben, und die so viel Geld gesammelt haben? Für eine "Zeltschule" in einem Flüchtlingslager in der Bekaa-Ebene, 15 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Dort, wo man nachts die Bomben hört.

"Diese Menschen haben sehr lange auf eine Schule gewartet", sagt Jacqueline Flory, Mutter einer Drittklässlerin der Grundschule an der Tumblingerstraße, wenige Tage nach ihrer Rückkehr aus Libanon. Ein halbes Jahr, nachdem die Idee bei einem Elternabend erstmals aufgekommen war, steht die Zeltschule. Es gibt eine Whiteboard-Tafel und Schulbücher, niedrige Bänke zum Sitzen und hohe Bänke zum Schreiben. Und glücklicherweise lebt in diesem Lager auch Yehya Alfares, ein syrischer Lehrer aus Aleppo, der bereits einige Versuche unternommen hatte, in seinem winzigen Zelt Unterricht abzuhalten.

Jetzt kann er loslegen: In drei Schichten wird er 130 Kindern im Alter von fünf bis 14 Jahren Mathematik, Englisch, Arabisch und Naturwissenschaften beibringen. "Sie haben aber keinen Koranunterricht", sagt Flory. Einerseits, weil man dem bayerischen Kultusministerium politische und religiöse Neutralität habe garantieren müssen, damit Eltern und Lehrer überhaupt den Verein Zeltschule gründen durften; Lehrern sei das eigentlich nicht gestattet. Außerdem habe man dem Vorurteil gegenübertreten wollen, dass mit den syrischen Flüchtlingen auch die Ideologie des sogenannten Islamischen Staates ins Land komme. Flory: "Das ist den Leuten dort sehr wichtig, sich davon zu distanzieren."

Syrische Kinder im Flüchtlingslager in Libanon vor einem Stück Stoff, das Schüler der Tumblingerschule mit Mustern und Sprüchen gestaltet haben. (Foto: privat)

Jacqueline Flory, die nicht nur bloggt, sondern auch Übersetzerin für Englisch, Spanisch und Arabisch ist, war schon etliche Male in Libanon und hatte den Lehrern und Eltern davon berichtet, wie in den Flüchtlingslagern dort eine ganze Generation in den Analphabetismus abzurutschen droht. Im Februar präsentierte Flory das Vorhaben dem Elternbeirat, die Zeltschule wurde zum offiziellen Schulprojekt erklärt: An einem eigens angesetzten Projekttag nahmen Kinder, Lehrer und Eltern etwa 3500 Euro ein, die Münchner Stiftung Findelkind, die sich für bedürftige Menschen engagiert, gab 4000 Euro dazu. Mit Einnahmen aus Kuchenverkäufen in den Pausen und Spenden benachbarter Händler und Horte schwoll das Konto des Vereins Zeltschule auf 14 000 Euro an.

Mit gut der Hälfte des Geldes fliegen Flory und ihre acht Jahre alte Tochter Lilith Mitte August nach Libanon. Weil eine Überweisung riskant ist, nimmt sie es in bar mit, gerade so viel, wie sie unbedingt benötigt. An Ort und Stelle wird Flory von der Hilfsorganisation Alphabet unterstützt, die in den vergangenen dreieinhalb Jahren bereits neun Schulen in Flüchtlingslagern aufgebaut hat, sowie von Diala Brisly, einer syrischen Künstlerin. Sie hatten so einige Herausforderungen zu meistern. Zum Beispiel: Überhaupt jemanden zu finden, der sie täglich von Beirut mit dem Auto in die Bekaa-Ebene bringt. Mit einem Mietwagen dürfe man nicht mehr in das Grenzgebiet, es bestehe eine Reisewarnung, erzählt Flory. Auch die meisten Taxifahrer weigerten sich, dorthin zu fahren. Aber auch, als die Münchnerin Melonen kaufen möchte für die Bewohner des Lagers, stößt sie auf Ablehnung. Sie habe Geld, könne bezahlen, versicherte sie dem Händler vor dem riesigen Melonenberg. Doch er verkaufte ihr keine. "Man hat dort genauso viele Ängste wie hier vor Flüchtlingen", sagt Flory.

Alles in allem, sagt Flory, sei aber alles gut gegangen. Die Frauen werden nicht von den Milizen festgehalten, ihr Wagen wird nicht durchsucht, nichts beschlagnahmt. "Wir hatten auch sehr viel Glück." Tag und Nacht arbeiten die Frauen an der Zeltschule, auch die Bewohner des Lagers packen freilich mit an. Sie wuchten Bauholz durch die Hitze, rammen Pfosten in den staubigen Boden, überziehen das Gerüst mit Planen. Und natürlich hängen sie an der Innenseite des Klassenzimmers auch jene auf, die die Kinder der Tumblingerschule mit roten, gelben und blauen Kringeln und Kreisen bemalt haben, viele von ihnen haben auch ihren Namen darauf geschrieben.

Leben im Lager: Nach Angaben der Projektbeteiligten Jacqueline Flory müssen viele der Kinder auf den umliegenden Feldern arbeiten. (Foto: privat)

Getan ist die Arbeit der Münchner damit nicht. Sie endet nicht damit, den Kindern durch die Haare zu wuscheln, ihnen eine arabische Ausgabe von "Der Grüffelo" oder Antoine de Saint-Exupérys "Der kleine Prinz" zu überreichen - auch wenn diese den Helfern geradezu aus den Händen gerissen werden. Nicht zu fassen, ein eigenes Buch. Es fehlt trotzdem noch vieles. "Die Kinder haben keine Puppe, keinen Ball, nichts", sagt Jacqueline Flory. Insbesondere müssten die Kinder von den Feldern geholt werden, wo sie für einen Hungerlohn schufteten. Denn ihren Eltern, erwachsenen Flüchtlingen, sei das Arbeiten in Libanon verboten. Deswegen ist auch eine Versorgung mit Lebensmitteln vorgesehen. Mit Schulmaterialien und einem kleinen Lehrergehalt werden dafür innerhalb eines Jahres etwa 6000 Euro anfallen, hat Flory ausgerechnet. Und eines ist ohnehin klar: "Sobald wir weitere 8000 Euro zusammen haben, machen wir uns auf den Weg für die nächste Schule." Das nämlich sei nicht nur etwas, was man unbedingt realisieren wolle. Man müsse es einfach.

Andererseits, und das ist Flory wichtig, sollen auch die Münchner Kinder von all dem profitieren. Um sie zu bestärken in ihrem Engagement, hat Flory diesmal an die Fotos gedacht. Hunderte Male haben sie und ihre Tochter Lilith in Libanon den Auslöser betätigt. Auf den Bildern halten kleine Syrer Rucksäcke hoch, in die ihre Altersgenossen in München Zahnpasta, Buntstifte und Vitamintabletten gepackt haben - und ein Foto von sich selbst. Es sollen Bild-Freundschaften entstehen zwischen hier und dort, das zarte Band des ersten Kontaktes soll nicht abreißen. Vielleicht könnten die Kinder sogar einmal skypen, meint Jacqueline Flory, ein paar der Zelte hätten einen Stromanschluss. Die Mädchen und Buben der Tumblingerschule werden dann wohl erst so richtig begreifen, was sie bewirkt haben im Leben anderer Kinder.

© SZ vom 19.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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