Helfer in der Türkei:"90 Prozent der Flüchtlinge wollen nicht nach Europa"

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Politiker diskutieren, Helfer handeln: Zafer Ertem und sein Team kümmern sich um syrische Flüchtlinge in der Türkei - damit sie bleiben können.

Interview von Elisa Britzelmeier, München/Torbalı

Während die EU und die Türkei darüber verhandeln, wie sie in der Flüchtlingskrise zusammenarbeiten wollen, sind freiwillige Helfer schon im Einsatz. Seit drei Wochen arbeitet die " German Alliance for Civilian Assistance" in der türkischen Stadt Torbalı, zwanzig Kilometer entfernt von Izmir. Zafer Ertem gründete die Initiative im Oktober mit einigen Münchnern zusammen, inzwischen ist ein gemeinnütziger Verein daraus geworden. Die Helfer waren in Serbien, Slowenien, Mazedonien, Kroatien, Ungarn und Griechenland. In der Türkei haben sie ein neues Ziel: Flüchtlinge zum Bleiben zu bringen. Am Telefon klingt Zafer Ertem erschöpft, er hat seit mehreren Tagen Fieber. Aber ausruhen, sagt er, "geht gerade einfach nicht".

SZ: Wie müssen wir uns die Lage in Torbalı vorstellen?

Zafer Ertem: Hier leben etwa 1000 Flüchtlinge, ohne dass es ein offizielles Camp gibt. Eher etwas zwischen Slum und Lager, ohne fließend Wasser, ohne Strom, ohne Dach über dem Kopf. Die Menschen nehmen Reissäcke, Müllsäcke oder was sie gerade finden, und basteln sich daraus ein Zelt. Ähnlich, wie man das aus dem mittlerweile geräumten Camp in Calais kennt. Nachts huschen riesige Ratten herum und knabbern an den Füßen der Kinder. Die Hälfte der Flüchtlinge ist minderjährig. Es sind ausschließlich Syrer.

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Von Christian Wernicke

Wie sieht Ihre Hilfe aus?

Wir sind vierzehn Helfer, aus München und aus allen Ecken Deutschlands. Einer hat seine Weltreise unterbrochen, um herzukommen. Wir bauen Backöfen, organisieren Mülltonnen und Ölkanister. Heute haben wir den ganzen Tag eingestürzte Dächer repariert. Für diese einfachen Dinge sind die Leute schon sehr dankbar. Hier will niemand eine Luxusküche mit Induktionsherd. Finanziert wird unsere Arbeit mit Spenden. Sieben, acht Euro pro Tag reichen, um einen Menschen zu versorgen. Das ist deutlich billiger, als sie den gefährlichen Fluchtweg gehen zu lassen und sie dann in Deutschland zu betreuen. Was wir tun, wäre eigentlich Aufgabe der Politik. Denn wir helfen nicht nur den Menschen - wir verhindern, dass sie sich überhaupt erst auf den Weg in die EU machen.

Woher wissen Sie das?

Bei Einsätzen entlang der Balkanroute habe ich mit vielen syrischen Flüchtlingen gesprochen, die zuvor Jahre in der Türkei lebten. Europa ist eine Option im Hinterkopf, für den Fall, dass nichts mehr geht. Wenn wir es ihnen hier aber erträglich machen, dann bleiben sie. Wir schreiben in einer täglich wachsenden Tabelle auf, woher die Menschen kommen, wie lang sie da sind, wo sie hinwollen. Mittlerweile sind es fast tausend Einträge. 90 Prozent der Flüchtlinge wollen nicht nach Europa.

Die Menschen wollen also hauptsächlich in Sicherheit sein.

Vor allem wollen sie erst einmal überhaupt überleben! Und dann wollen sie eigentlich wieder nach Hause. Der EU-Gipfel ist auch überhaupt kein Thema hier. Was Politiker dort entscheiden, interessiert die Flüchtlinge hier nicht.

Warum kommen so viele Flüchtlinge nach Torbalı? Von Syrien aus sind das ja immerhin gut tausend Kilometer.

Torbalı ist ein Industriestandort. Hier gibt es große Firmen, Agrarwirtschaft. Dass es irgendwie eine Chance auf Arbeit geben könnte, spricht sich herum. Etwa eine halbe Million Syrer wohnt in den offiziellen Camps der Türkei. Die restlichen, geschätzt zwei Millionen Menschen, verteilen sich auf das Land. In den Camps versorgen zwar der rote Halbmond - also das türkische Rote Kreuz - und andere Organisationen die Menschen. Aber sie wollen Geld verdienen und sparen, um in Syrien nach dem Krieg neu anfangen zu können. Manche benutzen nicht einmal das Geschirr, das sie in den offiziellen Camps bekommen. Sie bewahren es auf, für die Rückkehr nach Syrien.

Zafer Ertem arbeitet in einem Flüchtlingscamp in der Türkei. Davor war er bereits entlang der Balkanroute unterwegs. (Foto: GACA)

Und wenn sie sich dann außerhalb der Camps aufmachen, schlagen sie einfach auf privatem Grund ihr Lager auf?

Viele Flüchtlinge einigen sich mit Grundstücksbesitzern: Wenn wir uns hier niederlassen, dann bearbeiten wir dein Feld. So entstehen inoffizielle Camps wie das hier in Torbalı. Eine syrische Familie ist seit vier Jahren da, sie leben in der Ruine eines verlassenen Hauses. Für uns untragbar, die Flüchtlinge sind dankbar.

Wie gehen die Einheimischen damit um?

Die Hilfsbereitschaft ist groß: Die Leute bringen Schuhe vorbei, Makkaroni, Wasser, Heizkohle. Seit Kurzem erteilt die Regierung Flüchtlingen eine Arbeitserlaubnis, sobald sie offiziell registriert sind - da ist man hier weiter als in Deutschland. Allerdings: Wenn die Syrer in der Agrarwirtschaft arbeiten, treten sie in Konkurrenz zu den Bauern, die als Saisonkräfte aus Anatolien kommen. Es gibt in der Türkei kein Flüchtlingsproblem, sondern ein Arbeitsproblem, so sehen das die Leute.

Und von offizieller Seite?

Da fehlt das Geld. Die Türkei hat von Anfang an gesagt, dass sie eine halbe Million Flüchtlinge versorgen kann. Neue Camps werden jetzt nicht gebaut. Die Stadt müsste die Syrer in Torbalı eigentlich in Bussen zurück in die offiziellen Camps schicken. Sie drücken aber ein Auge zu, und solange es unter dem Radar der Regierung bleibt, helfen sie uns auch. Wir haben uns gleich am ersten Tag beim Bürgermeister vorgestellt. Er ist sehr dankbar, dass wir hier sind.

Sie haben türkische Wurzeln, vielleicht fällt es Ihnen auch deshalb leichter.

Auf jeden Fall. Ich sage sonst immer, ich bin Deutsch-Österreicher mit türkischen Wurzeln. Hier werde ich aber in jedem Fall als Türke wahrgenommen. Auch die anderen Helfer spüren das Mitgefühl der Einheimischen und sagen: Das Bild, das viele von der Türkei haben, ist ungerecht. Hier leben die Menschen mit viel mehr Flüchtlingen zusammen als in der EU, bei weniger Wohlstand und mehr Arbeitslosigkeit.

© SZ vom 10.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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