Auch in den düstersten Monaten der europäischen Flüchtlingskrise schien irgendwo in der Ferne ein Licht zu brennen. Irgendwann, so hofften große Teile der deutschen Politik, müsse doch Einsicht kommen über Europa. Irgendwann müssten auch die Widerspenstigen begreifen, dass es nur eine Lösung geben kann: die europäische. Es leuchte ein, dass dieses gemeinsame Großproblem nur in einer gemeinsamen europäischen Anstrengung bewältigt werden kann.
Weil aber große Teile der EU sich dieser Erkenntnis beharrlich zu verweigern schienen, entstand in Deutschland ein beklemmendes Bild von Europa: auf der einen Seite die Verfechter einer humanen und solidarischen EU, auf der anderen Seite die Egoisten. Kein schönes Bild, aber eines, das doch wohlige Wärme verbreitet - die wohlige Wärme des Selbstmitleids.
Die Ausgangslage, die Bundeskanzlerin Angela Merkel bei dem von ihr durchgesetzten Sondergipfel in Brüssel vorgefunden hat, ist komplexer. Das fängt bei der Frage an, welche Lösung eine europäische ist und welche nicht.
Früher einmal, als es um Bankenrettung und Griechenland-Hilfe ging, bezeichneten Merkel und andere deutsche Politiker schwerwiegende Entscheidungen als "alternativlos". Diese Vokabel, von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des Jahres 2010 erklärt, ist aus der Mode gekommen. Nicht in Luft aufgelöst aber hat sich die Überzeugung, dass in Krisensituationen nicht beliebig viele Auswege zur Verfügung stehen.
Merkel und die Ihren haben in den vergangenen Wochen ausbuchstabiert, welchen Weg sie für den derzeit einzig gangbaren halten: den Deal mit der Türkei. Der Türkei wird auf vielfältige Weise geholfen, auch durch die direkte Abnahme von Flüchtlingen. Im Gegenzug geht Ankara gegen Schlepper vor, nimmt alle Migranten zurück und sorgt so für eine Entlastung Europas. Merkel sagt, das sei die europäische Lösung. Viele in Europa aber halten es erst einmal nur für einen Plan, und zwar einen deutschen.
Kann der Plan funktionieren?
In der europäischen Wirklichkeit dreht es sich zunächst nicht darum, ob dieser Plan richtig ist oder falsch. Es geht darum, ob die anderen in der Union davon überzeugt werden können, dass er funktioniert. In Deutschland wird diese Diskussion von der Warte moralischer Überlegenheit aus geführt.
Die Deutschen, die mehr als einer Million Flüchtlingen Zuflucht geboten haben, verzweifeln an den tatsächlich oder vermeintlich weniger Großherzigen, die nun auch noch die Balkanroute blockieren. Ist menschlich und europapolitisch gesehen die Linie der Kanzlerin nicht alternativlos?
Auch die Zweifler haben Argumente. Warum und auf welcher Rechtsgrundlage soll der Nicht-EU-Staat Mazedonien endlos den Transit über sein Staatsgebiet dulden? Wie verlässlich ist die Türkei, die beim Gipfel mit einem sehr weitgehenden Vorschlag überrumpelt hat, unter einem so unberechenbaren Präsidenten als Partner?
Nicht nur der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann warnt davor, sich Recep Tayyip Erdoğan auszuliefern. Und heiligt der Zweck jeden Pakt mit dem Mann, der kritische Journalisten jagt und den Krieg mit den Kurden befeuert? Es ist nicht falsch, auf eine Lösung mit der Türkei zu setzen. Nur moralisch argumentieren sollte man dabei wohl nicht.
Wenn nun also von einem nahenden Durchbruch in den Verhandlungen mit der Türkei die Rede ist, dann geht es um ein Geschäft. Die Türkei verlangt sehr viel und ist bereit, dafür sehr viel zu geben. Die Bereitschaft, ausnahmslos alle von der Türkei kommenden illegalen Flüchtlinge wieder aus Griechenland aufzunehmen, schafft eine neue Lage. Sie könnte bewirken, was bisher grandios gescheitert ist: Sie könnte die Migranten davon überzeugen, dass der Weg über die Ägäis ins Nichts führt.
Im Gegenzug verlangt die Türkei mehr Tempo in den Beitrittsverhandlungen und schon im Juni die Visafreiheit. Zwar haben die Staats- und Regierungschefs die türkischen Vorschläge wärmstens willkommen geheißen, doch erst beim nächsten Gipfel in zehn Tagen wird sich zeigen, ob es tatsächlich einen Deal gibt. Merkel konnte das als großen Schritt nach vorne loben - was das Mindeste war, um aus Brüssel nicht als Verliererin nach Hause zurückzukehren.
Mit Erfolg hat die Kanzlerin sich auch dagegen gesträubt, die Balkanroute für geschlossen zu erklären. Merkel hätte Griechenland gerne die Lage erspart, in die das Land durch die geschlossene Grenze zu Mazedonien geraten ist, und wollte die Sperrung nicht auch noch mit europäischem Siegel versehen. Sie konnte sich damit durchsetzen, weil gegen die Stimme auch nur eines Mitglieds nichts auf einem EU-Gipfel beschlossen werden kann.
Wo Einigkeit herrscht
Eine Politik wird aber nicht dadurch schon europäisch, dass Deutschland sie für eine solche erklärt. Sie bedarf schon noch der Unterstützung der anderen. Die große Mehrheit in der EU aber ist sicher, dass es nötig war, den Weg zu versperren, bevor die Lage unter Kontrolle gebracht werden kann. Einigkeit herrscht immerhin darüber, dass Griechenland nun sehr viel Hilfe braucht.
Österreich feiert die Blockade der Balkanroute als Sieg. Das ist insofern albern, als niemand allen Ernstes glauben kann, der Flüchtlingsstrom lasse sich durch Zäune aufhalten. Ebenso aussichtslos aber wäre das Vorhaben, die Balkanstaaten und ihre Unterstützer von ihrer Weise abzubringen, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen.
Die EU braucht jetzt Ruhe auf dem leicht entflammbaren Balkan und eine sinkende Zahl der aus der Türkei kommenden Flüchtlinge. Die Entscheidung der Regierungen entlang der Balkanroute werden akzeptiert werden müssen, und ebenso dringend ist, dass die Vereinbarung mit der Türkei zustande kommt. So könnte vielleicht nicht die, aber doch eine europäische Lösung beginnen.