Gräfelfing:Im Auge des Tornados

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Jeder Tag ist eine Überraschung in der Unterkunft in Gräfelfing. Dazu trägt auch die Haustechnik bei. (Foto: Catherina Hess)

Die Gemeinde Gräfelfing beschäftigt in der Flüchtlingsunterkunft an der Großhaderner Straße auf eigene Kosten einen Sozialbetreuer. Wolfgang Beckers Arbeitsalltag wird bestimmt von Notfällen aller Art

Von Annette Jäger, Gräfelfing

Eines kann Wolfgang Becker mit Sicherheit über seinen Job sagen: Routine gibt es nicht. Jeder Tag ist eine Überraschung. Es kann ganz ruhig sein oder es kann ein Notfall den anderen jagen. Becker ist Sozialbetreuer in der Gräfelfinger Flüchtlingsunterkunft an der Großhaderner Straße. Die Gemeinde leistet sich diesen Helfer auf eigene Kosten. Er soll sicherstellen, dass alles glatt läuft in der Unterkunft, in der rund 180 Menschen aus Afghanistan, dem Irak, aus dem Kongo, Syrien und Eritrea leben, darunter mehr als 40 Kinder. Wolfgang Beckers Arbeitsalltag dreht sich in erster Linie um praktische Lebenshilfe. Davon erzählt er bereitwillig, nur ein Foto von sich will er nicht in der Zeitung sehen.

Um 6.15 Uhr beginnt Beckers Arbeit. Dann achtet er darauf, dass die Familien ihre Kinder in den Kindergarten und die Schule schicken. Klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Becker kennt den Tagesablauf von fast allen Familien. Er weiß, wer krank ist, wer wann in den Sprachkurs muss, wer welchen Behördenbescheid wann abgeben muss. An diesem Tag muss er kontrollieren, ob ein Schüler wie versprochen beim Arzt war. Wer nicht in die Schule geht, muss sich vom Arzt bescheinigen lassen, wie lange die Genesung dauert. Becker hat ein Auge drauf, ob das erledigt wird. Kontrolle gehört zu seinem Job.

Der Sozialbetreuer hat seine beruflichen Wurzeln im Rettungsdienst, er ist Fachkraft für Schutz und Sicherheit und damit katastrophenerprobt: Er taucht, fährt Boot und, wenn nötig, fliegt er - um Menschenleben zu retten. Die Einsatzregeln für die Führungskräfteausbildung im Rettungsdienst lassen sich auch in einer Flüchtlingsunterkunft anwenden, sagt er: Lage erkunden, sondieren, Entschluss fassen, ausführen, Rückmeldung und Kontrolle. Wenn man doch so etwas wie Routine in Beckers Alltag finden möchte, dann ist es dieser Einsatzplan, nach dem er handelt.

Becker ist das Bindeglied zwischen der Flüchtlingsunterkunft und dem Gräfelfinger Rathaus wie auch dem Landratsamt. Er federt eine Menge ab, was sonst auf den Schreibtischen der Behördenmitarbeiter landen würde. In der Praxis sieht das so aus: Neulich wurde ein Kind in der Schule krank und musste abgeholt werden. Weil die Eltern im Sprachkurs waren, fuhr Becker selbst los. An einem anderen Tag kam eine Mutter mit akuten Atemproblemen per Notarzt ins Krankenhaus. Die beiden Kinder - ein Baby und ein Kleinkind - blieben alleine zurück. Becker nahm sie zu sich, kontaktierte das Landratsamt, das eine Pflegefamilie organisierte. Wie die Kinder dorthin kommen sollten, war jedoch unklar. Becker kaufte kurz entschlossen im nahegelegenen Babyausstattungsladen zwei Autositze und fuhr die Kinder selbst. Das sind Tage, die er so beschreibt: "Um mich herum wirbelt der Tornado, ich stehe in der Mitte." Er muss oft improvisieren, schnell entscheiden. "Sonst führe ich 500 Telefongespräche."

Babysitter, Hausmeister, Integrationsbeauftragter - Becker ist alles in einem. Er passt auf, dass die Kinder nicht auf die Straße laufen, dass sie Schuhe anhaben, wenn es kalt ist, dass die Familie die richtigen Fahrkarten für die S-Bahn kaufen, dass die Männer ihren Frauen gestatten, den Sprachkurs zu besuchen. Frauen sind hierzulande frei, sagt Becker ihnen immer wieder. Es wird nicht immer gehört.

Außerdem kümmert er sich um klemmende Wasserhähne, ausgefallene Lüftungen, auch zwei große Wasserschäden waren zu bewältigen, Haus sechs musste bereits umfassend saniert werden. Es seien wohl die Schwächen der schnellen, einfachen Bauweise, glaubt er. Und dann sind da die Elektrogeräte, die ihm Sorgen machen. Ständig werden Kühl-Gefrierkombinationen angeliefert, zusätzliche Herdplatten oder Heizlüfter. Manches kaufen die Familien, anderes bringen ehrenamtliche Helfer. Doch das Stromnetz ist darauf nicht ausgelegt. Immer wieder gibt es Kurzschlüsse, Becker fürchtet Schmorbrände.

Manchmal muss er sich auch um die ehrenamtlichen Helfer kümmern. Viele sind eine große Unterstützung, aber es gibt einzelne, die verzweifelt bei ihm im Aufenthaltsraum sitzen, weil ihre Hilfe nicht so ankommt, wie sie sich das wünschen. Dann klopft er ihnen auf die Schulter und schickt sie heim. "Kümmer' dich jetzt mal um deine eigene Familie", sagt er dann.

Becker hat den Sicherheitsdienst an seiner Seite, der 24 Stunden vor Ort ist. Ein Mitarbeiter spricht Türkisch, das hilft bei Übersetzungsarbeiten. Von denen gibt es viele: Behördenbescheide, Medikamenten-Beipackzettel oder die Kindergartenanmeldung. Viele Bewohner seien Analphabeten, sagt Becker. Und viele müssen immer wieder ermuntert werden, die Sprachkurse zu besuchen. Becker spricht kein Arabisch, kein Paschto und kein Kurdisch. Sie verstehen sich trotzdem. "Sprechen Sie aus dem Herzen, das klappt", rät der Sozialbetreuer.

Die Stimmung in der Unterkunft wechselt wie die Jahreszeiten, sagt er. Gerade ist Frühling, gerade geht es besser. Das Landratsamt hat pro 100 Personen in einer Unterkunft einen Betreuer vorgesehen, das ist mehr als vorgeschrieben. Wolfgang Becker hat eine 39-Stunden-Woche, exakt um 14.33 Uhr endet sein Dienst. Er bleibt meistens länger.

© SZ vom 01.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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