Gräfelfing:Das Paradies in der Mitte des Ortes

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Elisabeth Seidl hat durch ihre Stiftung durchgesetzt, dass der Seidlhof als landwirtschaftlicher Betrieb erhalten bleibt, in dem Kinder die Natur hautnah erleben können. In diesem Jahr wird das Gelände zum Schauplatz der großen Kunstausstellung

Von Annette Jäger, Gräfelfing

Es soll ihr Lieblingsplatz gewesen sein. Am steinernen Brunnen, umgeben von einem Urwald aus Bäumen und Büschen. Könnte Elisabeth Seidl an diesem Ort, mitten im versteckten Grün auf dem Gelände des Seidlhofs in Gräfelfing, die Idee gekommen sein, eine Stiftung zu gründen, um dieses paradiesische Fleckchen für die Nachwelt zu erhalten? Wie auch immer es war - sie hat die Stiftung gegründet und damit den Seidlhof, den letzten landwirtschaftlichen Betrieb inmitten der feinsten Villengegend, für immer der Förderung des ökologischen Land- und Gartenbaus sowie der Umweltbildung verschrieben. Die Stiftung wird dieses Jahr, im 100. Geburtsjahr der Stifterin, zehn Jahre alt. Eine guter Zeitpunkt, das Kleinod erstmals durch eine große Kunstausstellung in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken (Kasten).

Es ist ja so, dass nicht mal alle Gräfelfinger wissen, dass mitten im Wohngebiet zwischen Ruffiniallee und Irminfriedstraße und zwischen Spitzlberger- und Waldstraße ein 22 000 Quadratmeter großer Bauernhof mit Gewächshäusern, Kräutergarten, Feldern und einem Hühnerstall liegt. Zu dem Anwesen gehören auch noch ein Acker mit Obstbaumwiese am nahe gelegenen Neunerberg und eine weitere Ackerfläche in Lochham. Auch die alte Villa an der Irminfriedstraße, der Bungalow daneben und ein weiteres Wohnhaus gehören dazu und tragen mit den Mieteinnahmen die Stiftung.

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(Foto: Lukas Barth)

Die Beete sind grün im Seidlhof in Gräfelfing.

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(Foto: Lukas Barth)

Auf dem Seidlhof können Kinder erleben, wie Lebensmittel erzeugt werden.

Chef der Landwirtschaft ist Marco Zehner, der gelernte Landwirt verwaltet und bewirtschaftet den Betrieb zusammen mit vier Mitarbeitern im Seidlschen Sinne. Im Mittelpunkt steht die Arbeit mit Kindergärten und Grundschulklassen: Jedes Jahr zeigen Zehner und seine Kollegin Karoline Brunner Hunderten von Kindern aus dem Großraum München - sie kommen aus dem Würmtal und bis aus Solln, aus Sendling, der Fasanerie und vom Hasenbergl -, wie Kartoffeln gedeihen, was eine Pastinake ist, wie Dinkel angebaut wird, wie man Schädlinge ohne Gift vertreibt und wie man ohne Chemie düngt. Sie haben auf dem Hof und am Neunerberg ihre eigenen Beete, die sie übers Jahr hinweg besuchen und bewirtschaften. Aus der Ernte kochen sie ein Essen. Den Kreislauf der Natur mit allen Sinnen erfahren - das ist die Idee, sagt Zehner.

So muss es Elisabeth Seidl selbst als Kind erlebt haben. Ihr Vater, der Hutfabrikant Anton Seidl, gründete den Betrieb 1915, um seine Familie im Ersten Weltkrieg vor dem Hunger zu bewahren. Nach seinem Tod 1940 führte die Tochter den Hof weiter. Sie praktizierte ökologische Landwirtschaft und lebte das Prinzip der Nachhaltigkeit, lange bevor der Begriff in Mode kam. Marco Zehner erinnert sich an ihr blankes Entsetzen, als er das erste Mal mit einem Schlepper auf den Hof vorfuhr, um den Acker zu pflügen. Sie hätte lieber Ochsen gesehen, vermutet er.

Den ersten Schritt, ihre Oase im Wohnviertel für die Nachwelt zu erhalten, tat Elisabeth Seidl 1977: Damals drängte sie darauf, das Areal als landwirtschaftliche Nutzfläche im Flächennutzungsplan zu verankern und nicht als Bauland. Das war im Gemeinderat nicht unumstritten, erinnert sich der damalige Bürgermeister Eberhart Reichert. Aber es ist ihr gelungen. Es war seine erste Begegnung mit der energischen Dame. Heute ist er Vorstandsvorsitzender der Seidlhof-Stiftung.

Wie wertvoll die Umweltbildung der Kinder ist, erfahren Brunner und Zehner täglich. Viele Kinder - und auch die Lehrer - haben keine Ahnung, wie Nahrungsmittel entstehen, sagt Zehner. In vielen Familien werde nicht gekocht. "Manche Kinder fragen, wann die Folie um die Gurke wächst", hat Brunner schon erlebt. Nicht wenige Kinder fassen hier zum ersten Mal einen Regenwurm an, haben Scheu, den nackten Fuß in die Wiese zu setzen und sich die Finger schmutzig zu machen, klauben aber bald freudig Kartoffelkäfer. Zehner ist sich sicher: Wer einmal den selbstgemachten Apfelsaft getrunken hat, wird den Geschmack nicht vergessen. Elisabeth Seidl, die laut Reichert für Gräfelfing ein "unerhörter Glücksfall" war, ist 2007 gestorben. Ihre Idee aber lebt weiter.

© SZ vom 06.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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