Gräfelfing:Aus dem Asphaltsee sprießt Leben

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Breite Straßen und eine Verkehrsinsel prägten früher den Gräfelfinger Bahnhofsvorplatz. Nach dem Umbau bietet er den Fußgängern nun mehr Raum und Kunst, doch verweilen möchte man dort trotzdem nicht unbedingt

Von Annette Jäger, Gräfelfing

Die S-Bahn S 6 aus München hält in Gräfelfing, die Türen öffnen sich, mit Tüten und Taschen bepackte Menschen steigen aus, strömen die Treppe vom Bahnsteig hinab und verteilen sich aus der Unterführung kommend wie ein Bienenschwarm über den Rathausplatz: zum Fahrradständer, zur Bahnhofstraße, ins Rathaus, in die anderen Straßen, die sternförmig auf den Platz zuführen. Manche warten kurz auf einer der von der Sonne gewärmten Holzbänke unterhalb der Rathausmauer, den Blick auf das Handy gesenkt, bis ein Auto kommt, in das sie einsteigen. Dann wird es wieder ganz still auf dem Platz, nur noch die zwitschernden Vögel sind zu hören - bis die nächste S-Bahn Nachschub bringt.

Die S-Bahn gibt den Takt an auf dem neugestalteten Rathausplatz. Ihre Abfahrt zieht Menschen an, ihre Ankunft spuckt Menschen wieder aus. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, und manchmal gibt es auch ein Innehalten, weil der Platz auch ein Treffpunkt ist, um von hier zu anderen Zielen aufzubrechen. Hier wird gegrüßt und sich gedrückt, hier wird sich verabschiedet und geküsst. Küssen ist ausdrücklich erwünscht - ein Schild mit der Aufschrift "Kiss & Ride" gestattet es, die Liebsten in einer eigens dafür angelegten Parkbucht vor dem S-Bahnhof abzusetzen, zu verabschieden und gleich weiterzufahren, höchstens fünf Minuten darf das dauern.

Kunst statt Krach. (Foto: Catherina Hess)

Im vergangenen Jahr hat die Gemeinde den Platz für rund 800 000 Euro umgestaltet. Seitdem heißt er nicht mehr Rathausvorplatz. Die Silbe "vor" wurde gestrichen, der Platz damit auch verbal aufgewertet. Es ist nämlich nicht nur der Platz vor dem Rathaus, sondern ein zentraler Ort in der Gemeinde, der durch die enge Unterführung, das Nadelöhr, das beschauliche Areal mit der hektischen Bahnhofstraße jenseits der S-Bahngleise verbindet. Vorher war der Platz ein Asphaltsee mit sehr breiten Straßen und einer unübersichtlichen Abbiegesituation inklusive einer verwirrenden Verkehrsinsel. Das wünschte sich die Bürgermeisterin Uta Wüst (Interessengemeinschaft Gartenstadt Gräfelfing) anders. Übersichtlicher sollte es werden und die Fußgänger sollten die Straßen leichter queren können. Der Zeitpunkt war günstig, die Straße musste ohnehin aufgerissen werden, weil die Kanalisation aus dem Jahr 1900 zu erneuern war.

Jetzt sind die Straßen, die auf den Platz führen, deutlich schmaler und die Gehwege breiter. Auf dem gesamten Areal gilt nun Tempo 20, "verkehrsberuhigter Geschäftsbereich" wie es offiziell heißt. Fahrbahn und Gehwege gehen nahezu fließend ineinander über, es gibt statt Bürgersteigen nur eine kaum wahrnehmbare Schwelle. Der Gemeinderat hat das Verkehrskonzept nicht ganz ohne Skepsis verabschiedet, die Sicherheit der Fußgänger erschien manchen gefährdet zu sein.

Wo früher Autos dominierten, ist jetzt mehr Platz für die Menschen. (Foto: Catherina Hess)

In der Praxis sieht das so aus: Autofahrer, die aus der Unterführung auf den Platz rollen, sehen als erstes den Smiley auf einem Verkehrsschild, der 29 Stundenkilometer statt der gewünschten 20 anzeigt und deshalb die Mundwinkel traurig nach unten zieht. Der Autofahrer steigt auf die Bremse und schleicht weiter. Es ist ein Gewöhnungsprozess. Um diesen zu beschleunigen, werden demnächst breite grüne Streifen aufgemalt, sagt Bauamtsleiterin Elisabeth Breiter. Sie sollen signalisieren: ab hier auf die Bremse. Auch Piktogramme, die auf die Fußgänger aufmerksam machen, sollen kommen. Das Parken hingegen funktioniert in den nur dezent markierten Parkfeldern an einem sonnigen Dienstag schon sehr gut. Die Gemeinderäte hatten befürchtet, dass die Autos kreuz und quer parken würden, weil es keine Gehsteige mehr als Hindernis gibt.

Die Bürgermeisterin ist zufrieden, wenn sie aus ihrem Bürofenster auf den Platz blickt, sagt sie. Mehr "Verweilqualität", hatte sie sich dort auch gewünscht. Statt "verweilen" würde "warten" besser passen. Einen gemütlichen Nachmittag verbringt hier keiner. Der neugepflanzte Baum in der Platzmitte, um den sich eine neue Sitzbank schmiegt, ist noch mickrig, manche hätten sich noch mehr Grün gewünscht. Aber wer warten muss, zum Beispiel auf den neuen 258er Bus, der erstmals das westliche Gemeindegebiet ansteuert, kann gemütlich Platz nehmen und hat immer etwas zum Schauen: Im Zuge der Umgestaltung wurde eine Kunstplattform an der höchsten Stelle des zum Rathaus hin leicht ansteigenden Platzes errichtet. Hier sind wechselnde Kunstobjekte zu sehen, die der Gräfelfinger Kunstkreis auswählt. Derzeit thronen riesige Holzfiguren des Schweizer Künstlers Daniel Eggli an der Stelle. Einer der Holzmenschen im Anzug liest Zeitung, der andere hat sein Handy am Ohr - das kommt den vielen Gräfelfingern, die auf den Platz strömen oder von dort weg eilen, sicher bekannt vor.

Auch für die aus Holz des Künstlers Daniel Eggli, die genau das tun, was Leute mit Muße lieben: Zeitung lesen und notfalls mal schnell telefonieren. (Foto: Catherina Hess)

Eine Stele an anderer Stelle erinnert den Wartenden, dass er auf historischem Pflaster steht: Am 1. Mai 1900 wurde die Bahnhaltestelle hier eröffnet. Und er erfährt noch etwas: anstelle des Rathauses stand hier früher das "Weiße Rößl", eine Gastwirtschaft. Sie war ein Magnet für die Bewohner der Villenkolonie, aber auch für die Münchner, die "Staderer", die Gräfelfing als beliebtes Ausflugsziel ansteuerten. Gäbe es diese Gastwirtschaft am Rathausplatz heute noch, würde das die Verweilqualität sicher erheblich steigern.

© SZ vom 12.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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