Giesing:Zweischneidiges Schwert

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Die Ausstellung "Giesing baut" zeigt, dass der Stadtbezirk von den Sanierungsprojeken der vergangenen Jahre profitiert. Zugleich wächst aber die Angst vor den Mechanismen der Gentrifizierung

Von Tim Sauer, Giesing

"Giesing baut!" - und baut und baut. Jedenfalls dürfte es manch einem so vorkommen. 2005 wurden allgemeine Sanierungsziele für das Gebiet "Tegernseer Landstraße/Chiemgaustraße" formuliert. Viele Aufwertungsprojekte im Programm mit dem sperrigen Namen "Stadt- und Ortsteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - soziale Stadt" folgten. 30 Prozent der Investitionskosten übernehmen hier üblicherweise jeweils Land und Bund, die restlichen 40 Prozent trägt die Stadt München. Auf diese Weise soll es gelingen, förderungsbedürftige Gebiete aufzuwerten. Das ist auch das Ziel in Giesing. Im nächsten Frühjahr soll das Programm nun verlängert werden. Der Planungsausschuss wird dann dem Stadtrat einen Antrag vorlegen. Zwei weitere Jahre soll in Giesing saniert werden. Ein üblicher Vorgang, erklärt Ulrike Klar, leitende Baudirektorin im Referat für Stadtplanung und Bauordnung: "Wir sind noch mittendrin".

In der Ausstellung "Giesing baut!", die jetzt im Stadtteilkulturzentrum am Giesinger Bahnhof stattgefunden hat, zog man Zwischenbilanz. Was bereits geschehen ist, lässt sich gut anhand des "Tela 64" darstellen. Früher stand das Kaufhaus Hertie an der Tegernseer Landstraße 64 - bis 2011, da begann das Bauprojekt. Das blieb freilich nicht ohne Probleme: Schon der Abriss war schwieriger und zeitaufwendiger als geplant, die Anwohner hatten massiv unter dem Staub, der durch die Arbeiten entstand, zu leiden, und schließlich wurde auch noch an den Tramgleisen und Fernwärmeleitungen in der Tegernseer Landstraße gearbeitet - eine zusätzliche Herausforderung für die Logistik vor Ort. Die deutliche Mehrheit der Giesinger stand aber hinter dem Projekt. Vielen war klar, wie nötig die Belebung ihrer "Tela" war. Das Viertel sollte wieder zum Einkaufen und Bummeln einladen.

"Giesing baut!" - und baut und baut. Jedenfalls dürfte es manch einem so vorkommen. (Foto: privat)

Heute steht hier ein modernes Haus, das einige optische Highlights zu bieten hat. Am auffälligsten ist sicher die Fassade an der Unteren Grasstraße, die mit goldglänzendem Metall verkleidet ist. Der Plan scheint aufzugehen: Woolworth, Tengelmann, ein dm-Drogeriemarkt und M-net sind im Erdgeschoss untergebracht. In den ersten Monaten nach Fertigstellung zeigen sich sowohl die Leiter der Filialen als auch die umliegenden Einzelhändler zufrieden. Die Giesinger nähmen das Angebot zahlreich an. Die Belebung funktioniert: Der Tegernseer Platz lade zum Flanieren ein, nicht mehr nur zum Durchfahren, resümierte Carmen Dullinger-Oßwald (Grüne), Vorsitzende des Bezirksausschusses Obergiesing-Fasangarten.

Aber, wie passend: Längst ist nicht alles Gold, was glänzt. Kaum einer äußert Zweifel daran, dass die Aufwertung das Viertel attraktiver macht. Der scheinbar logische Schluss gefällt vielen dennoch nicht. Denn höhere Attraktivität bedeutet meistens auch steigende Preise. Der damalige Bezirksausschuss-Vorsitzende Horst Walter (SPD) brachte es schon kurz nach der Eröffnung des neuen "Tela 64" im Jahr 2013 auf den Punkt: "Giesing wird jünger, moderner und teurer." Baudirektorin Ulrike Klar versucht, die Bedenken zu zerstreuen: "In Giesing wirken einige Faktoren gegen die Gentrifizierung."

Urbanes Leben: Giesing hat in den vergangenen Jahren eine deutliche Aufwertung erfahren - und die Menschen freut es. (Foto: privat)

Es mag noch so paradox klingen, aber der Lärm durch den Mittleren Ring, die fehlenden Parkplätze oder die anhaltenden Baustellen dürften in dieser Hinsicht das Glück einiger Giesinger Mieter sein. Während auf dem Agfa-Gelände nun höhere Mieten verlangt werden, bleiben sie in den weniger gefragten Gebieten weiterhin vergleichsweise niedrig. Eine Verdrängung der alteingesessenen Mieter stehe also nicht unmittelbar bevor.

Auch für Eigentümer kann eine solche Sanierung durchaus folgenreich und unangenehm werden. In Fällen wie dem vorliegenden in Giesing wird in den Grundbüchern aller Objekte innerhalb des Sanierungsgebiets ein sogenannter Sanierungsvermerk ergänzt. Strebt der Eigentümer dann beispielsweise eine Modernisierung an, darf diese die Sanierungsziele nicht "wesentlich erschweren" oder gar "verunmöglichen". Im Konfliktfall kann die Stadt das Vorhaben des Eigentümers unterbinden. In der Realität passiere das allerdings selten, meistens könne man sich einigen, bevor es in das sanierungsrechtliche Verfahren geht. Dort würden deshalb nur ganz selten Projekte abgelehnt. In Giesing sei ihm kein Fall bekannt, so Markus Groß vom Baureferat.

Das "Tela 64" ist längst nicht die einzige "Aufwertungsmaßnahme". Es gibt weitere und durchaus prominente Projekte wie das Wohn- und Gewerbequartier auf dem ehemaligen Agfa-Gelände oder die Mittelpunktsbibliothek, aber zum Beispiel auch die Umgestaltung der Grünflächen am Weißenseepark.

Städtebaulich und stadtgesellschaftlich tut sich also einiges derzeit in Giesing. "Sehr komplex und facettenreich" sei das, beschreibt Anna Canins vom Quartiersmanagement diese Entwicklung - das erkennt man am "Tela 64". Aber das Viertel biete jetzt eben auch mehr Raum zum Leben und Wohlfühlen.

© SZ vom 06.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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