Porträt:Dieser Mann klettert beruflich auf Windräder und Türme

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Ein Brückenbogen ist für den 37-Jährigen kein Problem, er steigt auch auf Hochhäuser, Windräder oder Türme - bisher immer unfallfrei. (Foto: Bruno Axhausen/privat)

Josef Daxenbichler arbeitet als Industriekletterer. Er hat schon die Europäische Zentralbank, die Kochertalbrücke und die Theatinerkirche erklommen.

Von Anja Blum

Josef Daxenbichler, der schon mit 14 Jahren von zu Hause ausgebüxt ist, um Bungee zu springen, hat sich oft verletzt in seinem Leben. Bänderriss, Gehirnerschütterung, das volle Programm. Dann aber verbrachte er ein Jahr in Frankreich - ohne Krankenversicherung. Und diese Erfahrung hat ihm vermutlich das Leben gerettet.

"In dieser Zeit habe ich gelernt, ganz genau auf meinen Körper zu hören", sagt der 37-Jährige, außerdem sei ihm da klar geworden, dass er alle bisherigen Unfälle eigentlich vorausgeahnt habe. "Wenn mir damals das Skateboard gleich in der Früh gegen das Schienbein geknallt ist, hab ich es in die Ecke gestellt und bin wandern gegangen." Die Angst vor einem teuren Krankenhausaufenthalt war einfach zu groß.

Heute spielen solche finanziellen Überlegungen eher eine untergeordnete Rolle, doch die Umsicht ist geblieben. "Ich mache einfach nur noch Sachen, bei denen ich mir hundertprozentig sicher bin. Und wenn mein Bauch irgendwie grummelt, lass' ich es sein."

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:Handwerk in luftiger Höhe

Industriekletterer seilen sich für ihre Arbeit an Hochhäusern, Kirchtürmen oder Windrädern ab. Sie kommen zum Einsatz, wenn der Aufbau von Gerüsten zu teuer oder schwierig ist.

Eine Einstellung, die im Falle Daxenbichlers einer Lebensversicherung gleichkommt, schließlich verdient er sein Geld damit, sich in riskante Situationen zu begeben: Der Aßlinger arbeitet seit mehr als zehn Jahren als Industriekletterer. Das sind Menschen, die Hochhäuser, Brücken, Windräder oder Türme erklimmen, um dort oben Arbeiten zu verrichten. Plakate installieren zum Beispiel, Beton sanieren oder Fenster putzen - in schwindelerregenden Höhen.

Doch seit seiner Zeit in Frankreich ist Daxenbichler nichts mehr passiert. Eingesetzt werden Spezialisten wie er, wenn es technisch nicht möglich ist, ein Gerüst aufzustellen oder mit einem Kran zu arbeiten, oder auch, wenn ein solcher Aufwand nicht in Relation zum Ergebnis steht. "Dort oben war ich zum Beispiel auch schon mal", sagt Daxenbichler auf dem Weg zu seinem Elternhaus in Bruck, und zeigt auf den Kirchturm von Alxing.

Er ist sein eigener Chef - das gefällt ihm

Jedoch nicht aus Spaß - religiöse Gebäude grundlos zu erklettern verbietet ihm sein ethisches Empfinden -, sondern um einen Blitzableiter zu montieren. "Dafür hätte es sich wirklich nicht gelohnt, ein Gerüst aufzubauen." Außerdem sei die Aussicht von dort oben, der Blick auf die Alpenkette, sensationell.

Als Industriekletterer ist Daxenbichler, den alle nur "Daxi" nennen, sein eigener Chef - ein Umstand, der ihm sehr gefällt. "Dass ich mich nicht verbiegen lasse, hat sich bereits in der Schule gezeigt", erzählt er: Anstatt sich weiter von einem Lehrer quälen zu lassen, sei er lieber von der Real- an die Hauptschule gewechselt.

Auf den Baustellen arbeitet er jedoch nicht ganz allein, sondern mindestens mit einem zweiten Mann - aus Sicherheitsgründen. "Falls etwas passiert, du zum Beispiel bewusstlos im Seil hängst, muss jemand da sein, der dich runterholen kann", erklärt Daxenbichler. Bei umfangreicheren Projekten - mit schweren, großen Lasten oder 2000 Quadratmetern Fensterfläche etwa - schließen sich mehrere Industriekletterer als Subunternehmer zusammen.

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Daxenbichler nimmt deutschlandweit Aufträge an, war schon auf der europäischen Zentralbank in Frankfurt, auf der Kochertalbrücke, mit 185 Metern die höchste Talbrücke Deutschlands, und auf der Theatinerkirche in München. Mit einem Job in der Neuhauser Straße schafften es Daxenbichler und seine Kollegen sogar in die Boulevard-Presse: Unter dem Titel "Die coolsten Bauarbeiter Münchens" prangte ein Foto, das an die legendäre Aufnahme von Charles C. Ebbets aus dem Jahr 1932 erinnert.

In beiden Fällen sitzen mehrere Männer hoch oben auf einem Stahlträger. Nur dass die Originale vom Bau des New Yorker Rockefeller Centers sich in 250 Metern Höhe befanden - es in München aber nur zwölf Meter waren. "Trotzdem: Unter uns entstand ein richtiger Menschenauflauf, alle haben fotografiert", erinnert sich Daxenbichler und lacht. Werbung habe sein Berufsstand allerdings gar nicht nötig: Man kenne sich in der Szene, als Kontaktbörse diene die Kletterhalle am Ostbahnhof.

Doch Daxenbichler klettert nicht nur auf Berge und Gebäude, sondern irgendwie auch durch sein Leben: Aus eigener Kraft immer weiter, manchen Umweg nehmend, erreicht er mit Kreativität und Ausdauer seine Ziele. Eigentlich ist der Aßlinger gelernter Heizungsbauer, Handwerker also, was als Industriekletterer von großem Vorteil ist. Nach der Lehre in Ebersberg verschlug es ihn jedoch für den Zivildienst - die Verweigerung des Wehrdienstes war ihm eine Herzenssache - nach Bad Tölz, wo er durch einen Freund zum Klettern am Felsen kam. "Da war ich sofort angefixt", erinnert der 37-Jährige sich.

Außerdem reifte in dieser Zeit die Erkenntnis, dass ein 40-Stunden-Job seine Sache nicht ist. Und Daxenbichler schaffte es auch, dies umzusetzen: Sein Sanitärunternehmen in Ebersberg ermöglichte ihm einen flexiblen Teilzeitvertrag mit langen Freiphasen, in denen er andere Berufe ausprobierte - und viel zum Klettern ging. "Man braucht vor allem Zeit, um Glück zu haben", sagt er heute. Denn irgendwann kam dann ein Anruf: Ob er bei einem Pool an Industriekletterern in München dabei sein wolle? Daxenbichler wollte - und konnte es sich einrichten. Bis er den Heizungsbau eben irgendwann ganz an den Nagel hängte.

Es folgten wilde Zeiten, in denen ein Wohnwagen Daxenbichlers Zuhause war, und auch heute noch würden die meisten sein Leben wohl eher alternativ bezeichnen: Mit seiner Lebensgefährtin, einer Yogalehrerin, wohnt der 37-Jährige mittlerweile in Aßling, ohne Trauschein, aber mit gemeinsamem Sorgerecht für den fünfjährigen Leo.

Sein VW-Bus ist standesgemäß ziemlich alt, unaufgeräumt und dient auf Montage auch mal als Schlafgelegenheit. Allerdings achtet Daxenbichler sehr darauf, nicht zu lange und zu oft von zu Hause weg zu sein, denn seine Familie ist ihm extrem wichtig. "Meine Frau und ich teilen uns das alles", sagt er.

Trainieren auf dem Hof der Eltern

Aber auch viel Zeit für sich selbst braucht Daxenbichler, fürs Skaten und Snowboardfahren, zum Balancieren auf der Slackline, zum Buildern (Klettern in der Stadt) und Bouldern (Klettern ohne Sicherung auf Absprunghöhe). Ein spezielles Fitnessprogramm hat er sich aber nicht verordnet. Zum Trainieren geht er in die Halle oder auf den elterlichen Hof, wo er eine Art Garage für seine Zwecke eingerichtet hat.

Überall an den Wänden sind dort Vorsprünge, Griffe und sonstige Halterungen montiert, sodass Daxenbichler alle möglichen Bewegungen, sogar Sprünge, üben kann. Kletterschuhe an, Ärmel hochgekrempelt - und schon hangelt er sich wie ein Affe durch den Raum. "In meinem Beruf sind vor allem Ausdauer und Konzentration wichtig", sagt er, als er wieder auf dem Boden steht. Deswegen mache ihm das Alter bislang nicht zu schaffen. Ganz im Gegenteil: "Ich werde irgendwie immer fitter."

Und das Risiko? Das ist Daxenbichler freilich bewusst - es ist in seinen Augen der Preis, den er für seine "schöne Arbeit" bezahlen muss. "Aber ich versuche immer, dass ich überlebe", sagt er mit ernstem Blick. Als Adrenalin-Junkie will der 37-jährige nämlich auf keinen Fall gelten. Lieber als Mensch, der zwar gerne an Grenzen geht, sich dabei aber seiner Verantwortung bewusst ist. Als Mensch, der weiß was tut.

Ein Draufgänger ist Daxenbichler nicht

Viel habe sich mit Unfallforschung beschäftigt - und daraus seine Lehren gezogen. "Wenn wirklich etwas schiefgeht, zum Beispiel im Flugzeug, sind das meistens mehrere Dinge, die zur Katastrophe führen", sagt er. Und besonders oft hätten Unfälle mit schlechter oder mangelnder Kommunikation zu tun. "Deswegen versuche ich, auf der Baustelle immer für gute Stimmung zu sorgen, sodass jeder sich traut, den anderen mögliche Bedenken mitzuteilen oder Fehler sofort einzugestehen."

Dadurch lasse sich das Risiko enorm verringern. Außerdem legten die Auftraggeber - anders als manchmal auf dem Bau - stets großen Wert auf Sicherheit. "Vor unseren spektakulären Jobs haben die Leute eben Respekt, dabei kann ein Sturz vom Hausdach genauso dramatische Folgen haben."

Auch was das freie Klettern in den Bergen oder der Stadt angeht, ist Daxenbichler offenbar kein Draufgänger. "Ich muss nicht an der Weltspitze klettern", sagt er, da sei er ganz entspannt. Wichtig sei ihm weder der Schwierigkeitsgrad, noch der Kraftaufwand. "Für mich muss sich die Bewegung einfach schön anfühlen." Bei ihm sehe das Klettern aus wie Tanzen, habe es seine Frau einmal auf den Punkt gebracht. Und tatsächlich: Wie er sich da an den Wänden entlangbewegt, das hat einfach Rhythmus, das hat Stil.

© SZ vom 08.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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