Konzert:Erst Reset, dann Aufnahme

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Der Jazz-Pianist Chris Gall aus Vaterstetten findet immer wieder neue Antworten auf das "Warum?" eines Musikerlebens. Am Samstag spielt er in Zorneding

Von Ulrich Pfaffenberger, Vaterstetten

Amerikanische Soulsängerinnen beginnen ihre Karriere im Kirchenchor. Deutsche Jazzmusiker setzen in der Schulband zum Aufstieg an. Solche Sätze hören sich an wie Klischees aus der Presseabteilung einer Plattenfirma. Aber sie finden im wirklichen Leben dann doch ab und zu ihre Bestätigung. Etwa bei einer entspannten Unterhaltung mit Chris Gall auf einem Sofa in Vaterstetten. Dort, wo der Musiker in einem kleinen Kellerstudio seines Hauses die ruhigen Stunden zwischen Auftritten und Aufnahmen dafür nutzt, an sich und seiner Musik zu arbeiten. "Immer wieder den Resetknopf drücken" nennt er das, und man glaubt ihm aufs Wort, dass er genau weiß, wo dieser sich befindet.

Zurück zur Schulband. Gall, ein 1975er Jahrgang, hat, wenn er davon erzählt, genau das Gesicht auf, das in der eigenen Klasse jene auszeichnete, die "eine tolle Schulzeit, nie Stress, aber auch nicht die besten Noten" hatten. Dafür aber einen "sozialen Pool mit Freunden" zum Freischwimmen von Lehrplan, Elternhaus und all den anderen Dingen, die einen in diesem Alter einengen. Andere hatten damals Sportler als Idol, der gebürtige Bad Aiblinger hingegen nahm sich Dave Brubeck und Miles Davis zum Vorbild - "meine ersten CDs". Man merkt: kein Musikgeschmack für jedermann, aber Geschmack.

Kann sehr entspannt über Musik plaudern: Jazz-Pianist Chris Gall aus Vaterstetten. (Foto: Christian Endt)

Diesen Leitbildern ist Gall auch während des Studiums zunächst gefolgt. Bis ihn eine Dozentin mal fragte, was er denn musikalisch so vorhabe. Haarklein und mit größtmöglicher Differenzierung habe er ihr erklärt, dass er in den Bebop einsteigen und sich dann der nächsten Epoche zuwenden wolle. Sie fragte nach, nur ein Wort: "Warum?" Danach war alles anders. Seitdem ist Chris Gall einer, der Fenster aufmacht, rausschaut, sich dann nach innen und von Erwartungen ab wendet und zu experimentieren anfängt. Wer sich eine seiner CDs hört, zum Beispiel "Duo", die er mit dem Gitarristen Andreas Dombert eingespielt hat, spürt schnell, welche Art von Experiment das ist: die Suche nach dem Klang des Augenblicks, der auf den Augenblick folgt, der gerade dein Denken beherrscht. Die erste Nummer mit dem Titel "Evolving" darf man da gern als programmatisch nehmen: Gall, der im Studio fast nur eigene Kompositionen einspielt, mit Partnern wie dem Varietékünstler Chris Kolonko, dem Perkussionisten Bernhard Schimpelsberger oder Pedro Tagliani an der Akustikgitarre, entwickelt sich, immer wieder aufs Neue.

Einen Teil seines Studiums hat der Pianist am Berklee College in Boston absolviert. Das ist für den Jazz eine der Adressen, bei denen Kollegen anerkennend die Augenbraue hochziehen. Prägend für Gall, "das wirkt bis heute", war dort die Begegnung mit dem "Real Book", der Bibel des Jazz, die alles verzeichnet, was den Titel "Standard" trägt. Was aus dieser Sammlung herausklingt, ist für ihn der Ausgangspunkt dafür, sich zu öffnen, sich selbst zu provozieren, zu komponieren. Für sein Publikum ergibt sich daraus ein spannendes Feld zwischen Vertrautem und Unerwartbarem. "Eine gewisse Abenteuerlust und Entdeckungsfreude müssen meine Zuhörer schon haben", meint Gall. "Dann werden sie glücklich sein, weil ich mich für sie anstrenge." Das passt zu einer anderen Haltung, die sich an der Liste seiner Auftrittsorte, auch in der Heimat, ablesen lässt: "Ich habe nicht den Traum, einen Saal mit tausend zu füllen, obwohl ich's schön fände", sagt Gall. "Lieber sind's hundert und ich habe alle Freiheiten, sie emotional einzufangen." Wichtiger als viele Stuhlreihen im Saal ist ihm ein gutes Klavier.

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In einer ganzen Reihe von Projekten engagiert - "manche davon würde ich gern jede Woche wieder spielen" - geht das Musikerleben Chris Galls überwiegend live über die Bühne, wie am Samstag, 18. November, wieder, beim Benefizfestival in Zorneding. Dennoch schwört er auf die regelmäßige Produktion von Alben. "Dieses Format ist kommerziell unsinnig, aber spannend", so Gall. Dass er 2017 "Studio Konzert" ausschließlich auf Vinyl veröffentlichte, war in diesem Kontext doppelt konsequent. Denn auf Alben als Momentaufnahmen eines Musikerlebens ganz zu verzichten, wäre "ein großer Verlust".

Schließlich zeige eine LP auch, mit wem sich jemand musikalisch einlasse, sagt Gall. Da wendet sich das Äußere zum Inneren und wieder zurück: "Ein Album spiegelt immer den Zeitgeist, den der Künstler in Musik transformiert hat." Das sei bei Davis' "Kind of Blue" so gewesen, bei "Sergeant Pepper" der Beatles, bei der Neuen Deutschen Welle. Ein Album, so reflektiert Gall seine eigene Erfahrung als Zuhörer, "gibt dir Gelegenheit, einen Künstler in seiner Entwicklung kennenzulernen. Das ist ein einzigartiges Dokument, in seiner Geschlossenheit eine Herausforderung." Die neue LP von Gall, sie soll im Februar erscheinen, wird mithin ein nächstes Kapitel aus seinem Leben erzählen.

Chris Gall live erleben kann man am Samstag, 18. November, beim Zornedinger Musikfestival, um 15.30 Uhr in der Christophoruskirche

© SZ vom 17.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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