Deutsche Bahn:Wenn S-Bahnen einfach vorbeirauschen

Lesezeit: 3 min

Der Bahnhof in Possenhofen. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Um Verspätungen auszugleichen, fahren einige Züge an bestimmten Stationen einfach vorbei - auch an stark genutzten Bahnhöfen.

Von Marco Völklein

Die Fahrgäste der Münchner S-Bahn sind einiges an Leid gewohnt. Verspätungen, Zugausfälle, verwirrende oder erst gar nicht ertönende Ansagen - damit schlagen sie sich immer wieder herum. Seit etwa einem Jahr nun hat die Deutsche Bahn als Betreiberin der S-Bahn eine weitere Facette der Ärgerlichkeiten auf Lager: Ist eine S-Bahn deutlich verspätet unterwegs, rauscht der Zug an einigen Haltestellen auf den S-Bahn-Außenästen an teils verdutzten Fahrgästen vorbei. Zweck der Übung: Der Lokführer soll so den Endbahnhof rechtzeitig erreichen, um bei seiner Fahrt zurück in Richtung Innenstadt wieder pünktlich unterwegs zu sein.

Praktiziert werde das Ganze unter anderem auf der Linie S 2 im Münchner Osten, sagt S-Bahn-Chef Bernhard Weisser. Ist da eine S-Bahn beispielsweise in Richtung Erding verspätet unterwegs, lässt der Triebfahrzeugführer nach dem Stopp in Ottenhofen den Halt in St. Koloman und Aufhausen aus. Dann heißt es: nächster Halt erst in Altenerding. Ähnlich läuft es laut Weisser auf der S 4-Ost: Dort können bei größeren Verspätungen die Halte in Gronsdorf, Haar, Vaterstetten und Baldham wegfallen, erst in Zorneding wird dann wieder gestoppt.

Vorfall in der Münchner S-Bahn
:S-Bahn-Kontrolleur gegen Chinesin: "Wir gehen jetzt zur Po-li-zei"

Weil eine junge Frau ihre Fahrkarte nicht abgestempelt hatte, kannte ein Münchner S-Bahn-Kontrolleur keine Gnade. Jetzt bekommt die Deutsche Bahn feurigen Ärger.

Von Sonja Salzburger

Ziel der Aktion: Durch den Wegfall der Halte, sagt Weisser, schaffe es die S-Bahn unter Umständen, in Grafing Bahnhof wieder im richtigen Takt zu sein - und dann fahrplanmäßig auf die eingleisige Strecke nach Ebersberg einzuschwenken. Gelingt dies aber nicht, komme dort nicht nur der Fahrplan der S 4 durcheinander, sondern auch der für die Regionalzüge nach Wasserburg am Inn, "Filzenexpress" genannt. Das Auslassen einzelner Haltestellen diene somit "zur Stabilisierung des Gesamtsystems", sagt Weisser. Zumal es äußert selten vorkomme: Im Juni seien nur 20 von 20 000 Zugfahrten betroffen gewesen, erklärt der Freistaat auf Anfrage.

Fahrgäste berichten aber, dass sie auch auf einzelnen Abschnitten der S 3, der S 6 und der S 8 mit dem Phänomen der vorbeirauschenden Züge konfrontiert worden seien. Beim Fahrgastverband Pro Bahn trifft die Idee auf massive Kritik: "In Einzelfällen mag es vielleicht sinnvoll sein, mal einen schwach frequentierten Halt ausfallen zu lassen", sagt Pro-Bahn-Sprecher Andreas Barth. "Dass aber auch stark genutzte Bahnhöfe" wie etwa Olching, Haar oder Vaterstetten zeitweise nicht angefahren werden, "das klingt doch eher nach einem schlechten Witz". Die DB sei gut beraten, wenn sie sich "mehr darauf fokussiert, die versprochene Leistung zu erbringen, statt darauf, mit den vorhandenen Leistungsmängeln irgendwie umzugehen".

Stabilisierung des Gesamtsystems

S-Bahn-Chef Weisser indes verteidigt seinen Ansatz: Das S-Bahn-System sei "an seinen Kapazitätsgrenzen angelangt", bei Störungen würden diese "auch deutlich und systematisch überschritten". Seit Jahren tüftelten die Fahrplan-Entwickler der DB immer wieder an Konzepten, um auch mit vergleichsweise kleinen Maßnahmen das S-Bahn-System zu stabilisieren - dazu zähle nun auch das Durchrauschen einzelner Züge.

Zudem wende man die Maßnahme nur dann an, wenn auf den durchfahrenden Zug relativ rasch ein zweiter Zug folge, der dann die stehen gelassenen Passagiere aufnehmen könne, sagt Weisser. Und das Ganze wende man nur an, wenn dem Disponenten und dem Lokführer ausreichend Zeit bleibe, um die Fahrgäste in den Zügen wie auch an den Bahnsteigen per Durchsagen sowie gegebenenfalls über Anzeigen informieren zu können. Es sei aber "keinesfalls so, dass wir in Massen Streckenabschnitte nicht bedienen".

Letztlich, sagt Weisser, habe man "die Wahl zwischen Pest und Cholera". Früher seien nach einer Großstörung viele verspätete S-Bahnen gar nicht bis zum Endhaltebahnhof durchgefahren, vielmehr hatte die DB-Leitung sie unterwegs vorzeitig wenden lassen. Gerade auf den vom Zentrum aus gesehen weiter entfernten Außenästen habe es dann aber große Taktlücken gegeben bis zur nächsten S-Bahn.

Die Bayerische Eisenbahngesellschaft (BEG), die im Auftrag des Freistaats den Regionalzug- und S-Bahn-Verkehr plant, organisiert und bezahlt, sieht in dem Auslassen von Haltestellen zumindest kein größeres Problem. "In einem hoch komplexen System wie der Münchner S-Bahn", sagt der oberste BEG-Qualitätsmanager Wolfgang Oeser, sei es wichtig, "dass sich das Gesamtsystem nach einer Betriebsstörung möglichst schnell erholt" - entweder durch das vorzeitige Wenden der Züge oder das Auslassen von einzelnen Bahnhöfen. Es sei Aufgabe der S-Bahn, die "hierfür richtige Entscheidung eigenverantwortlich und wohlüberlegt zum Vorteil der Mehrzahl der Fahrgäste" zu treffen.

© SZ vom 28.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ-Dienst
:SZ München-News per WhatsApp, Telegram oder Insta

Wissen, was München bewegt: Der WhatsApp-Kanal der Süddeutschen Zeitung bietet einen schnellen und bequemen Nachrichtenservice für die Stadt. Abonnieren Sie ihn kostenlos.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: