Flüchtlinge vor der Abschiebung:Gestundetes Leben

DEMO GEGEN ABSCHIEBUNG

Vor der Abschiebung durch die Polizei fürchtet sich die Familie Shala im Flüchtlingslager in der Kufsteiner Straße in Dachau jeden Tag.

(Foto: dpa/Boris Roessler)

Ahmet Shala, seiner Frau und ihren drei Kindern droht die Abschiebung nach Kosovo. Das Ausländeramt glaubt ihm nicht, dass er für den IS zwangsrekrutiert werden sollte.

Von Helmut Zeller, Dachau

Lügt Ahmet Shala oder lügt er nicht? Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend für die Zukunft des 44-jährigen Kosovaren und seiner Familie. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge glaubt, sie gefunden zu haben, und lehnte seinen Antrag auf Asyl ab. Am Ende der "informatorischen Anhörung" am 1. Juli in der Boschetsrieder Straße in München sagte die Sachbearbeiterin: "Ich glaube Ihnen nicht." Eine Stunde für das Urteil über das Leben einer Familie.

Ahmet Shala ist auf den Grund der Einsamkeit des Auswanderers gesunken. Anfang Februar war er aus Kosovo geflohen. Mit seiner Frau, den 16 und zwölf Jahre alten Söhnen und der zehnjährigen Tochter gelangte er über Ungarn und Österreich nach Bayern. Der Grund der Flucht: Fanatische Wahhabiten wollten ihn, wie er sagt, für die Terrormilizen des "Islamischen Staats" zwangsrekrutieren. Jetzt wartet die Familie in Dachau auf die Abschiebung - fünf Gesichter aus der anonymen Masse der Flüchtlinge vom Balkan.

Shalas 41-jährige Frau Arieta ist auf 46 Kilogramm Gewicht abgemagert. Seit Wochen bringt sie kaum mehr einen Bissen herunter. Sie versteht kein Wort von dem, was über sie geredet wird, und bricht immer wieder in Tränen aus. Vor drei Wochen versagten ihr die Nerven. Sie brach im Dachauer Caritas-Zentrum zusammen. Ein Arzt hat sie und ihren Mann für reiseunfähig erklärt. Doch das muss nichts bedeuten. Die Behörden könnten sie bei der Abschiebung von einem Arzt begleiten lassen. Bis zur Grenze. Jenseits davon existieren die Shalas für den deutschen Staat nicht mehr.

Shala spricht perfekt Deutsch, die Kinder gehen zur Schule

Das Landratsamt Dachau hat dem Münchner Rechtsanwalt Felix Brieseneck am 13. August versichert, dass derzeit keine Abschiebung geplant sei. Das Bundesamt hat das Asylgesuch der Familie in zwei getrennten Verfahren bearbeitet. Das ist eigentlich nicht üblich. Brieseneck weiß auch nicht, warum das in diesem Fall gemacht wurde. Den Anträgen der Frau und der Kinder auf aufschiebende Wirkung ihres ablehnenden Bescheids von der Ausländerbehörde wurde vom Verwaltungsgericht München stattgegeben. Über die Klage wird erst noch entschieden. Ahmet Shala hat beim selben Gericht keine aufschiebende Wirkung für seinen Bescheid erwirkt. Die Polizei kann ihn jederzeit aus der Asylbewerberunterkunft in der Kufsteiner Straße holen, bevor noch über seine Klage entschieden ist.

Der frühere Kellner Ahmet Shala spricht perfekt Deutsch. Er wollte arbeiten, suchte auch schon eine Stelle, dann aber kam der Erlass des bayerischen Innenministers, demzufolge Flüchtlinge vom Balkan nicht arbeiten dürfen. Die Angst lässt ihn kaum mehr schlafen. Um fünf Uhr ist er jeden Tag wach. Dann läuft er zwei, drei Stunden durch die menschenleeren Straßen Dachaus.

Ihren Kindern haben die Shalas nichts gesagt. Ihrem gestundeten Leben in Dachau - ein paar Monate noch, wenn es gut geht - soll nicht alles Glück genommen werden. In den wenigen Monaten seit ihrer Flucht hat der 16-jährige Afrim so gut Deutsch gelernt, dass er die Flüchtlings-Klasse in der Berufsschule Dachau besuchen kann. Der 12-jährige Arian durfte in der Schule in Dachau-Ost von der fünften in die siebte Klasse springen - der hochintelligente Junge langweilte sich im Unterricht. Auch die zehnjährige Erona geht gerne zur Schule (alle Namen der Familienmitglieder wurden geändert).

"Es ist unsäglich"

"Wir waren so froh, als wir in Dachau eintrafen", sagt Shala. "Bei gleichbleibendem Sachverhalt haben sie wohl keine langfristige Bleibeperspektive", meint Brieseneck. Den Rechtsanwalt bringt der Ablauf des Asylverfahrens in Rage. "Das ist einer von vielen Fällen, in denen nicht neutral geprüft, sondern nach einer vorgefassten Meinung entschieden wurde." Und diese Meinung wertet Tausende Flüchtlinge aus Kosovo, Albanien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Serbien und Montenegro pauschal als "Wirtschaftsflüchtlinge" ab. Als wären Armut und ein Leben ohne Zukunft keine Gründe zur Auswanderung - Millionen von Deutschen emigrierten deshalb im 19. Jahrhundert nach Amerika.

45 Prozent der Flüchtlinge, die im ersten Halbjahr 2015 in Deutschland Asyl beantragt haben, stammen laut Bundesamt aus diesen sechs Ländern. Sie haben kein Anrecht auf Asyl und sollen schneller als bisher abgeschoben werden. Viele dieser Menschen sind jedoch Roma, die in ihren Ländern rassistischer Verfolgung ausgesetzt sind - also durchaus ein Anrecht auf Asyl hätten. Auch einem Moslem wie Ahmet Shala kann man dieses Recht nicht pauschal absprechen. "Es ist unsäglich, Länder wie Kosovo zu sicheren Drittstaaten erklären zu wollen", sagt Matthias Weinzierl vom Bayerischen Flüchtlingsrat, das Asylgesetz sehe immer eine Einzelfallprüfung vor.

Ahmet Shala hat bei seiner ersten Anhörung am 6. Februar wirtschaftliche Gründe für die Einwanderung genannt. Ein Fehler. Warum? Weil das Gespräch nur fünf Minuten dauerte, und er - am Vortag war die Familie erst nach der wochenlangen Reise in München eingetroffen - viel zu müde war, um die komplizierte Lage zu erklären. Es sei ihm doch auch ein weiteres Gespräch angekündigt worden. Shepend Kursani, Mitarbeiter des Kosovarischen Zentrums für Sicherheitsstudien (KCSS), sagt dazu: In der Tat behaupteten Kosovaren eine Bedrohung durch den IS. Allerdings gebe es einige Fälle, in denen das auch zutreffe. "Es ist schwierig für deutsche Behörden solche Fälle zu erkennen. Aber sie sollten das genau untersuchen." Das wurde nicht getan. Die Meinung war schon gefasst.

300 Euro fürs Beten - Shalas wahrscheinlich größter Fehler

Ahmed Shala lebte wie viele in Kosovo, das sich vom Krieg noch nicht erholt hat, von Schwarzarbeit. Er arbeitete auf Baustellen. Sein Bauernhof mit einer Kuh, Kartoffel- und Zwiebelanbau hielt die Familie über Wasser. In ihrem kleinen Dorf gab es eine Moschee, aber Ahmet Shala ging immer freitags in die Moschee der nahegelegenen Stadt Vushtrri und danach auf den Flohmarkt. Im Januar 2014 sprachen ihn nach dem Gebet zwei strenggläubige Wahhabiten an.

Die Männer luden ihn auf eine Tasse Tee ein und machten ihm ein Angebot. 300 Euro monatlich würden sie ihm geben, wenn er täglich fünfmal in der Moschee seines Dorfes betet und sich einen Bart wachsen lassen lässt. Natürlich war ihm klar, dass die beiden einer islamistischen Organisation angehörten. 300 Euro fürs Beten, bei einem Durchschnittsgehalt von 400 Euro monatlich, der Verlockung widerstand er nicht - und beging seinen wahrscheinlich größten Fehler.

Ein Jahr später luden die zwei Wahhabiten wieder ins Café ein: Nun müsse er den Brüdern helfen, erklärten sie Ahmet Shala, nach Syrien gehen und mit ihnen kämpfen. Wenn er sich weigere, würden sie seinen ältesten Sohn verschleppen. Einen Tag später flüchtete die Familie. Zuerst zu seinen Schwiegereltern, in ein 80 Kilometer entferntes Dorf. Mit Geld vom Schwiegervater machten sie sich nach einer Woche auf den Weg.

Das Verwaltungsgericht München bestätigt die Ansicht des Bundesamts: "Aus dem Vortrag ergibt sich kein Verfolgungsschicksal . . ." Als Asylberechtigter könne der Antragsteller ohnehin nicht anerkannt werden, da er auf dem Landweg aus einem sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik eingereist ist. Eine drohende Zwangsrekrutierung als Kämpfer in Syrien durch Wahhabiten - das Gericht schreibt "Vehabisten" - sei auch deshalb unglaubhaft, weil Ahmet Shala bei der ersten Anhörung davon nichts gesagt habe. Keiner stellt jedoch die Frage, warum einer, der lügen will, seine Lügengeschichte nicht sofort auftischt.

Er hätte doch bei der Polizei um Hilfe suchen können, finden deutsche Behörden

Aber so erheblich ist die Frage, ob Ahmet Shala die Wahrheit sagt, dann auch wieder nicht. Denn das Gericht folgt dem Bundesamt in der Auffassung, dass "auch wenn man davon ausgehen würde, dass sich . . . der vorgetragene Sachverhalt tatsächlich ereignet hätte", er kein Grund für ein Asyl wäre. Ahmet Shala hätte doch bei der Polizei um Hilfe nachsuchen können. "Die deutschen Behörden sollten die Konsequenzen für einen Zeugen in Kosovo bedenken. Der Schutz von Zeugen ist sehr schwach", erklärt Kursani. "Unabhängig davon könnte der Antragsteller darüber hinaus in einen anderen Teil seines Landes ausweichen, wenn er an seinem Herkunftsort Übergriffe befürchtet", meint das Gericht.

Doch so gut, wie sie vorgeben, kennen sich die Richter nicht aus. 232 Kosovaren kämpfen laut einer KCSS-Studie für den IS. Im Juli nahm die Polizei fünf Männer fest, die geplant haben sollen, das Trinkwasser von Priština zu vergiften. Ein Gutachten, wie vom Rechtsanwalt gefordert, hätte vielleicht zur Klärung beitragen können. Aber das hielten Bundesamt und Gericht nicht für nötig. "Entweder man geht nach Ungarn und sucht um Asyl an, oder man geht nach Syrien", zitiert der Wiener Standard den Lehrer Xhevat Suhogerlla aus Skënderaj. In dem Land sind 70 Prozent der Menschen unter 30 arbeitslos. Viele gehen zu islamistischen Gruppierungen, weil sie bezahlt werden, andere weil sie durch den Krieg traumatisiert sind und zum religiösen Fanatismus neigen.

Auch Driton S. flüchtete mit Frau und drei Kindern aus Vushtrri. Seine Frau wurde von religiösen Eiferern auf der Straße angegriffen, beschimpft, bespuckt, an den Haaren gezogen. Sie drohten damit, die Kinder "nach Arabien" zu verschleppen. Auch diese Familie wollte das Ausländeramt 2014 abschieben. Gerade aus Vushtrri kommen viele angebliche "Wirtschaftsflüchtlinge". S. hat eine Narbe am Hals. Fanatiker haben ihn mit einer Drahtschlinge gewürgt. Die Familie ist noch in Starzach. Das Gerichtsverfahren läuft weiter mit guten Chancen auf dauerhaften humanitären Aufenthalt, wie Rechtsanwalt Axel Oswald sagt. Starzach liegt aber in Baden-Württemberg, nicht in Bayern.

Ahmet Shala geht nicht zurück. Diese Leute machten ernst, sagt er. In den schlaflosen Nächten in der Kufsteiner Straße spielt er mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen, wenn die Abschiebung kommt. Wenn er dafür die Kraft nicht findet, dann muss er sich dem IS anschließen. Seinen Sohn Afrim wird er ihnen nicht geben. Auf keinen Fall. Seine Verzweiflung ist spürbar. Man muss sich nur die Zeit nehmen, ihm zuzuhören.

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