Architektur:Innere Schönheit

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Die Teilnehmer des Projekts "Fassadengeschichten" sammeln Anekdoten und Bilder von Häusern im oft unterschätzten Stadtteil Milbertshofen. Am Ende soll daraus ein Buch entstehen

Von Jana Heigl, Milbertshofen

Dorrit Wess steckt ihre Nase in den Folianten und fährt mit dem Finger suchend am Rand herab. Das Buch ist so dick, dass ihr Kopf fast darin verschwindet. Es sind große, mindestens fünfzehn Zentimeter dicke Schmöker, die sie da wälzt. Darin stehen Namen und Adressen aus München und den Münchner Vororten. Immer wieder schreibt die Fotografin einen Namen, eine Adresse, eine Baufirma auf ein großes Blatt Papier. Das Besondere: Die Adressbücher sind teilweise über hundert Jahre alt. In einer Zeit, in der man eigentlich alles nur noch über das Internet recherchiert, wirken sie wie aus einer anderen Welt. Doch sie sind unersetzlich. Was in ihnen steht, hat Wess noch in keiner Online-Quelle gefunden.

Avantgarde

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(Foto: Privat)

Im Jahr 1983 baute der Architekt Thomas Herzog die Anlage aus avantgardistischen Häusern an der Wilhelm-Raabe-Straße 6. Bauherr war Jochen Richter, ein Autor und Regisseur. Der Planung liegen Eindrücke zugrunde, die der Architekt aus den USA mitgebracht hatte. Lange blieben die Recherchen von Anne Raab erfolglos, doch dann entwickelte sich eine echte "Fassadengeschichte": Sie fing zufällig den Filmproduzenten Conrad Cornelius zwischen Tür und Angel ab, als er gerade sein Haus betreten wollte und konnte ihm ihre Fragen stellen.

Moderne

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(Foto: Privat)

An der Brentanostraße 19 stand bis in die Sechzigerjahre hinein ein kleines Häuschen mit einem Garten, in dem Äpfel, Mirabellen und Zwetschgen gediehen. Mitte des Jahrzehnts errichtete der in Milbertshofen geborene Architekt Otto Steidle auf dem Grundstück dann ein kantiges weißes Gebäude mit einem großen Gemeinschaftsgarten. Dort stehen heute noch die alten Bäume der früheren Eigentümerin. Beim Verkauf an Steidle habe sie übrigens Wohnrecht auf Lebenszeit bekommen, so erzählt es zumindest ein Bewohner des Hauses.

Jugendstil

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(Foto: Privat)

Welche Bewohner dem Jugendstilhaus an der Schleißheimer Straße 271 bis 273 im 20. Jahrhundert einmal Leben eingehaucht haben, kann man heute nur noch schwer nachvollziehen. Nach den Unterlagen des Landesamts für Denkmalschutz entstand das Haus um 1902, der Stuckdekor ist typisch für die Jahrhundertwende. Und der Hausmeister kann berichten, dass das Haus vor ein paar Jahren sowohl Kindergarten als auch Kinderhort und jahrelang auch das Stadtteilbüro Milbertshofen des Sozialdienstes für Migration beherbergt hat.

Geheimnisvoll

Obwohl "1925" in großen Ziffern auf der Fassade dieses Hauses an der Griegstraße 24 prangt, taucht es im Adressbuch von 1926 noch nicht auf - erst im Band von 1936 entdeckt Lothar Lütz die Adresse. Woran das liegt, ist nicht sicher, jedoch kann es sein, dass das Haus zum Zeitpunkt der Erfassung 1925 noch gar nicht stand, denn ein Adressbuch bezieht sich immer auf das vergangene Jahr. Aus dem Buch geht hervor, dass eine "Ther. Gruber" dort eine private Auto- und Autodroschkenvermietung betrieb. Was aus ihr wurde, bleibt zunächst ein Mysterium. heja

Der Historiker Reinhard Bauer hat die Bände ins Kulturhaus Milbertshofen mitgebracht, damit die Teilnehmer des Projekts "Fassadengeschichten" mit ihrer Hilfe die Geschichte der Häuserfronten nachvollziehen können, die sie in den vergangenen zwei Monaten bei Spaziergängen entdeckt und fotografiert haben. Die alten Schinken sind die letzten ihrer Art, im Stadtarchiv kann man ihren Inhalt nur mühsam auf Mikrofiche entziffern. Deshalb sind sie nicht nur als Quelle von großem Wert: rund 500 Euro würde ein Band heute kosten. Bauer hat insgesamt sieben dabei, von 1909 bis in die Zeit des Nationalsozialismus. Die Adresse genügt, schon entfalten sich die Historien der Gebäude und ihrer Bewohner vor dem Suchenden.

Uralte Adressbücher und brandaktuelle Bilder: Die Geschichten-Sammler aus Milbertshofen machen sich mit ihren Recherchen viel Arbeit. (Foto: Stephan Rumpf)

Diana Koch ist die Programmleiterin des Kulturhauses und hat die "Fassadengeschichten" ins Leben gerufen. Mit dem Projekt, dessen Ergebnisse in einem Buch veröffentlicht werden sollen, will sie die schönen Seiten von Milbertshofen herausstellen: weg vom Image als Scherbenviertel und hin zum Ruf eines attraktiven Stadtviertels mit guter Infrastruktur. "Wir wollen die Menschen für ihren Stadtteil begeistern", sagt Koch. Sie findet es schade, dass niemand über die Wohnhäuser spricht. Dabei spielen sich dort doch die Dramen und Geschichten ab, die das Herz von Milbertshofen prägen. Mit einem Migrationsanteil von 60 Prozent ist der Stadtteil sehr anpassungsfähig. Immer wieder kamen und kommen Fremde, zum Beispiel als Gastarbeiter, hierher. Und die meisten sind geblieben", sagt Koch. "Das Viertel hat seine eigen Wohn- und Lebensqualität, da steht es eigentlich außer Konkurrenz."

Historiker Reinhard Bauer (rechts) stellt die Folianten zur Verfügung, Kulturhaus-Geschäftsführerin Diana Koch (2. von rechts) will mit dem Projekt "die Menschen für ihren Stadtteil begeistern". (Foto: Stephan Rumpf)

Die Schwabingerin Anna Raab arbeitet in einem Kinderhort in Milbertshofen. Ihr liegt das Viertel sehr am Herzen. Als sie bei einem Spaziergang in der Georgenschwaigstraße einen gewaltigen Löwen und schwarze Gummistiefel, die mit den Sohlen nach oben auf Holzpfählen steckten, entdeckte, war ihre Begeisterung für die "Fassadengeschichten" entfacht. "Ich hab das Haus gesehen und dann musste ich einfach mitmachen", sagt Raab. Zufällig saß der Eigentümer, Martin Weidhaas, gerade im Garten. Raab sprach ihn an und lud in kurzerhand zum Workshop ins Kulturhaus ein. Dort konnte er erklären, warum Raab das Grundstück in keinem der alten Adressbücher gefunden hatte. Das Haus sei erst 1961 in eine Schneise zwischen Häuserblöcken gebaut worden, in der vorher Schrebergärten angelegt waren. Er selbst habe die gute Marktsituation 1977 ausgenutzt und das Haus in seinen Zwanzigern als Geldanlage gekauft. Heute freut sich Weidhaas, denn die Preise sind seither immer weiter nach oben geklettert. Es sind Geschichten wie diese, die bei dem Projekt zusammengetragen werden sollen. Ob man die Häuser nun auswählt, weil man sie schön findet oder weil eine persönliche Bindung besteht, ist irrelevant.

Dorrit Wess und Sven Eichhorn begleiten das Projekt fotografisch. Beide sind professionelle Fotografen und haben Milbertshofen schon bei einigen Serien in den Mittelpunkt gerückt. Die Teilnehmer lernen beim Workshop also nicht nur, wie man die Geschichten richtig recherchiert, sondern auch, wie man die Häuser gekonnt in Szene setzen kann.

Die "Fassadengeschichten" sind "Dreh- und Angelpunkt, um Interessen auszuleben", sagt Koch. So ist zum Beispiel die neunjährige Thea Lütz mit ihrem Papa Lothar über ihr gemeinsames Hobby ins Kulturhaus gekommen: Thea fotografiert gerne und will sich an den neuen Motiven versuchen. Mehrere Dutzend Fotos hat sie schon gemacht und entwickeln lassen. Andere Teilnehmer wie Raab finden die Geschichten hinter den Fassaden der Wohnhäuser beeindruckend. Zusammen bilden sie alle ein Team, das am Ende ein Buch voll mit kleinen Anekdoten und Fotos herausbringt.

Es ist mühsam, die Informationen über die einzelnen Fassaden zusammenzutragen, und manchmal gelingt es den Teilnehmern nicht vollständig. Wer einen Tipp zu einem der genannten Häuser und seiner Geschichte hat, kann sich unter koch@kulturhaus-milbertshofen.de direkt bei Diana Koch melden.

© SZ vom 12.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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