"True Crime" im italienischen Fernsehen:Ein Land sieht Blut

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Obwohl die Zahl der Gewaltdelikte in Italien zurückgegangen ist, räumen die Medien der "cronaca nera" viel Platz ein. (Foto: dpa)

Warum Krimis gucken, wenn die Realität die schaurigsten Verbrechen bietet? Die Italiener lieben die "Cronaca Nera" - die "schwarze Chronik".

Von Oliver Meiler

Der Schrecken beginnt immer um 20.20 Uhr, als fixe Sequenz, manchmal auch schon etwas früher. Die Nachrichtensprecher von Rai Uno neigen jeweils den Kopf leicht zur Seite, es ist ein Zeichen an die Zuschauer, ein Warnsignal. Dann kommen zehn Minuten Horror in schneller Folge. Brutale Morde. Säureattacken gegen junge Frauen. Vergewaltigungen. Entführungen mit tragischem Ende, ein Strudel in die Tiefe menschlicher Abgründe im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Und wenn der Tag mal keine neuen Fälle gebracht hat, was natürlich auch mal vorkommen kann, werden einfach alte fortgeschrieben. Ein Kindsmord in Turin zum Beispiel. Drei Überfallsmorde im Hinterland von Bologna, die ein gewisser "Igor der Russe" verübt haben soll, der eigentlich Serbe ist. Die vielen Abrechnungsmorde unter Camorristi in Neapel.

Jeden Abend geht das so, zur besten Sendezeit, wenn die Familie isst und der Fernseher läuft. So sehr die Deutschen den fiktionalen Kriminalfilm lieben, der das hiesige Programm beherrscht, so sehr lieben die Zuschauer südlich des Brenners die mediale Aufbereitung und Nachbearbeitung echter Verbrechen, die Krimivariante ohne programmplanerisch vorgeschriebenes Happy End. Die Italiener nennen das Genre der wahren Kriminalfälle "Cronaca nera", schwarze Chronik. Da passt viel rein. Man kann fast nicht hinsehen, bleibt dann aber doch dran. Etwa die Hälfte der italienischen Tagesschau ist der "Cronaca nera" gewidmet.

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Es ist nicht klar, was zuerst da war: das massive Angebot an mörderisch Vermischtem in allen italienischen Medien, nicht nur im Telegiornale von Rai Uno; oder die nicht minder massive, morbide und voyeuristische Nachfrage des italienischen Publikums. In Italien gibt es nicht viel mehr Kriminalfälle als anderswo in Europa. Das nationale Statistikamt berichtet, dass die Zahl der Gewaltdelikte in Italien in den vergangenen Jahren zurückgegangen sei. Was hingegen zugenommen hat, hört man, ist die Zahl der Waffenträger. Und wahrscheinlich hat das auch damit zu tun, dass die Medien der "Cronaca nera" so viel Platz einräumen. Jedenfalls schaukeln sich Angebot und Nachfrage gegenseitig hoch. Mussolini verbot einst "La nera", weil er fand, sie schade dem Image des Landes und sie verleite zur Nachahmung. Aber das ist lange her.

Auch die großen Tageszeitungen sind jeden Morgen voll mit trüben Geschichten

Der Schrecken bringt Traumquoten, und darauf mag nicht einmal das Frühstücksfernsehen verzichten. Bei Uno Mattina auf Rai Uno gibt es neben wunderbar ausführlichen Wetterprognosen, vorgetragen von uniformierten Offizieren der Luftwaffe, einer Presseschau, einigen Fetzen Innenpolitik unter Erwähnung jeder Kleinpartei immer auch eine stattliche Dosis "Cronaca nera" - eine Morgenration als Einstimmung. Auch die großen Tageszeitungen sind jeden Morgen voll mit trüben Geschichten. Sie zeigen Fotos von Opfern und mutmaßlichen Mördern, die sie aus deren Profilen auf Facebook fischen. Wenn sich dann herausstellt, dass sie falsch gefischt haben, na ja, dann ist es halt so. In Italien gibt es keine klassische Boulevardzeitung, kein Pendant zu Bild oder Sun, die als Katalysator solcher Geschichten fungieren könnte. Und so bespielen eben auch alle seriösen Titel den Boulevard ganz genüsslich.

Nachmittags folgen dann Shows, die mit vielen Gästen und Publikum fast ausschließlich schwarze Chronik verhandeln. La vita in diretta (Das Leben live) zum Beispiel, ebenfalls Rai Uno, und Pomeriggio (Nachmittag) Cinque auf Canale Cinque, einem Sender aus dem Imperium von Silvio Berlusconi. Die beiden Sendungen prügeln sich um die besten Gäste. Besonders beliebt natürlich: der vermeintliche Mörder. Alternativ: der Vater, die Mutter, der Cousin des vermeintlichen Mörders. Man könnte ja denken, dass die Angehörigen von Opfern und Tätern sich eher nicht so gern in der Öffentlichkeit zeigen. In Italien aber drängt es viele von ihnen ins Studio. Es kommt auch vor, dass Fernsehteams nach Beerdigungen vor der Kirche oder dem Friedhof warten und die Trauernden interviewen. Die meisten lassen es mit sich geschehen, als schuldeten sie dem Volk einen Kommentar.

Zum festen Inventar der TV-Formate gehören auch Anwälte, die zwar nicht involviert sind in die besprochenen Fälle und darüber zumeist nicht besser informiert als die Zuschauer daheim, die aber sehr fachmännisch ins Blaue spekulieren. Gefragt sind auch fernsehtaugliche Psychologen, die sich für fähig halten, die dunklen Seiten des Menschen, des Mörders im Besonderen, auszuleuchten. Für denselben Zweck werden oft auch Pfarrer ins Studio geholt, was selten ergiebiger ist. Dazu natürlich Forensiker, Kriminologen, Soziologen. Die Geschichten, die besonders gut laufen, werden am Abend auch auf Chi l' ha visto (Wer hat ihn gesehen?) und immer öfter auch in der politischen Talkshow Porta a Porta (Von Tür zu Tür) weiterverhandelt. Wer den Tag des Herrn für heilig hielt, allenfalls noch von etwas Fußball durchsetzt, der sollte sich mal Domenica Live und Domenica in anschauen, die Sonntagssendungen der großen Kanäle: Mord und Totschlag allenthalben.

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"Unser Fernsehen", sagt Aldo Grasso, der Medienexperte des Mailänder Corriere della Sera, "wird von einer perversen Faszination getrieben: Es nährt sich an der Lust der italienischen Zuschauer auf 'Cronaca nera', und es füttert diese Lust zusätzlich mit seiner übertriebenen, infernalen Berichterstattung rund um die Uhr." Die Sender verwandelten die Delikte zu Serien mit immer neuen Folgen. "So lösen sie den Mord, den tatsächlichen, aus der Realität und machen daraus ein Spektakel mit eigenem Narrativ, eigenem Tempo und eigenen Regeln."

Je mysteriöser der Fall, desto reichhaltiger die Serie, die den Prozess begleitet

Parallel dazu läuft die Wahrheitssuche der Justiz. In Italien muss ein Verfahren drei Instanzen durchlaufen, bis ein definitives Urteil steht. Das dauert in der Regel viele Jahre und bietet den Medien immer neuen Stoff für immer neue Episoden. Je mysteriöser der Fall, desto reichhaltiger die Serie. Mit der Zeit spaltet sich das Publikum dann in zwei Lager, als wäre der Mordfall ein TV-Krimi und die Suche nach dem Mörder ein Ratespiel. Der derzeitige Trend zu True-Crime-Formaten, der mit aufwendigen Dokuserien zunehmend auch das hochwertige Bezahlfernsehen und die Streamingdienste erreicht, ist in Italien weniger hochwertige TV-Tradition.

Unlängst hat sich ein besonders berühmter und rätselhafter Fall zum 20. Mal gejährt: "Il delitto della Sapienza", das Verbrechen der Sapienza, so heißt Roms große Universität. In einem Hof der juristischen Fakultät ist am 9. Mai 1997 um 11.42 Uhr die Studentin Marta Russo durch eine Kugel, Kaliber 22, tödlich am Kopf getroffen worden. Jahrelang wurde der Fall verhandelt, strafrechtlich und medial. Ein Assistent der Universität wurde zu einer Haftstrafe wegen fahrlässigen Totschlags verurteilt. Das Urteil überzeugte aber niemanden: fahrlässig, mitten in den Kopf?

Wollte man sich alle Sendungen nacheinander anschauen, die in Italien seit der Tat ausgestrahlt worden sind, würde man einige Jahre damit verbringen. Zum Jahrestag wurde das "Delitto della Sapienza" nun noch einmal überall nachgezeichnet, seitenlang in den Zeitungen und stundenlang im Fernsehen. Ein Blatt titelte: "Sicher ist nur, dass Marta Russo tot ist."

In der Geschichte steckt also noch viel Stoff. Wohl bald auch wieder was für die großen Abendnachrichten, von 20.20 Uhr an, vielleicht sogar schon etwas früher.

© SZ vom 08.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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