Halbfinale beim Eurovision Song Contest:Schreilied und Euro-Neurose

Lesezeit: 4 min

Die Menschen in Baku wollen tanzen. Sie müssen tanzen, denn irgendwie muss ja die Zeit herumgehen, bis das erste Halbfinale wegen der Zeitverschiebung tief in der Nacht startet. Und als es losgeht, offenbart sich wieder das ewige Missverhältnis des ESC: größtmögliche technische Brillanz - und dünnster Inhalt.

Hans Hoff

Die albanische "Sängerin" Ronan Nishliu gebiert ihr Lied "Suus" unter offenbar großen Schmerzen auf der Bühne in Baku. Schon jetzt sollte die Anweisung für den Samstag lauten: Bei diesem Beitrag leiser drehen. Oder besser für drei Minuten ganz abschalten. (Foto: dapd)

Mitten im Kaspischen Meer steht eine Wassersäule, die knallig lila angestrahlt wird. Doch sie kann an diesem Dienstag nicht konkurrieren mit dem Lichtdom, den die Organisatoren des Eurovision Song Contest (ESC) über der Crystal Hall errichtet haben. Der überstrahlt die ganz Bucht von Baku, ist von überall zu sehen, wirkt manchmal wie der überdimensionierte Kühlturm eines Kraftwerks und stiehlt sogar den drei blitzenden Flammentürmen, auf deren Hochhausfassaden immer wieder die aserbaidschanische Flagge projiziert wird, die Schau.

Doch noch bekommen die Menschen an Bakus Promenade gar nicht so viel davon mit. Auf einer Open-Air-Bühne direkt am Meer singt gerade Ott Lepland, der estnische Teilnehmer einen Elton-John-Titel. "Don't let the sun go down on me" passt zur Abendstimmung in der aserbaidschanischen Hauptstadt. Und dann schiebt er noch seinen ESC-Beitrag "Kuula" nach, eine ziemlich Jammerballade, der man nach diesem Vortrag kaum Chancen einräumt, das zweite Halbfinale am Donnerstag zu überstehen.

Auch Roman Lob war schon hier. Wie er auch schon beim deutschen Empfang war. Und bei der Party der Niederländer. Wäre man böse, würde man behaupten, er singe hier überall, wo eine Milchkanne aufgestellt wird. "Standing Still" intoniert er stets, und immer trägt er ein kariertes Hemd und sein Mützchen.

Von seinem Auftritt an der Promenade künden indes nur noch ein paar Papierfähnchenreste auf dem Boden. Achtlos trampeln die Menschen auf der deutschen Hoffnung herum. Sie wollen tanzen. Sie müssen tanzen, denn irgendwie muss ja die Zeit herumgehen, bis an diesem Dienstag das erste Halbfinale startet.

Damit die mitteleuropäischen Zuschauer das zur angenehmen Zeit um 21 Uhr präsentiert bekommen, wird in Aserbaidschan der Startschuss erst um Mitternacht gegeben. Man ist den meisten anderen Mitgliedern der European Broadcasting Union (EBU) halt drei Stunden voraus.

Polizisten überall

Man tanzt allerdings nie allein in Baku. Allgegenwärtig ist die Staatsmacht. Alle drei Meter ist ein Polizist postiert, und wo kein Polizist steht, da wacht ein Security-Mann. Wer zum Pressezentrum neben der Crystal Hall will, muss ungelogen neunmal seinen Ausweis vorzeigen. Und im Hotel sitzt ein Polizist in der Lobby, einer im Frühstücksraum, und drei lungern vor dem Eingang herum. Wahrscheinlich kommt man eher auf einem Nato-Gipfel zwischen Angela Merkel und Barack Obama zu sitzen als unbeobachtet durch Baku.

Alle Wachmänner gucken grimmig. Mit lächeln haben es die Männer hier nicht so. Wahrscheinlich halten sie jeden ausländisch aussehenden Mann für schwul oder für einen Aktivisten der ESC-Gegenbewegung "Sing For Democracy" und wissen nicht, was sie schlimmer finden sollen. Auf jeden Fall sind die Männer wichtig, und sie zeigen das. Der Staat formt aus dieser Einstellung sein nicht sehr schönes Gesicht.

Ein bisschen wirkt Baku ohnehin wie von zu großer Hand geplant. Als habe ein lustloser Riese ein Architekturspiel zu Weihnachten bekommen und die zugehörigen Klötzchen am Rande des Kaspischen Meeres fallen gelassen. Gebaut wird hier wie Bolle. Überall hämmert es, überall wird an der Fassade gearbeitet. Schaut her, wir haben es, mit uns und unserem Ölgeld müsst ihr rechnen, lautet die Botschaft.

Genau deshalb passt ja auch der ESC so gut zu den neureichen Machthabern im Lande. Schließlich kultiviert die Träller-EM schon seit ihrer Gründung das Missverhältnis zwischen größtmöglicher technischer Brillanz und dünnstem Inhalt.

Das zeigt sich auch beim ersten Halbfinale, das um Mitternacht pünktlich startet. Beim Public Viewing auf der Promenade gibt es großen Jubel, als es endlich losgeht. Ein bisschen angefröstelt sind die Menschen vom rauen Wind, der schon den ganzen Tag das Meer aufpeitscht und den Staub von den Baustellen in die Augen treibt.

Angefröstelt kann man auch bleiben, wenn man die meisten der 18 Titel hört, die in dieser Nacht zur Auswahl stehen. Am Ende kommen Rumänien, Moldawien, Island, Ungarn, Dänemark, Albanien, Zypern, Griechenland, Russland und Irland weiter. Auf der Strecke bleibt Ralph Siegel, der sich für San Marino kompositorisch ins Rennen geworfen und der Einfachheit halber ein paar seiner alten ESC-Titel zu einem neuen kombiniert hat.

Offenbar finden die Zuschauer den Titel genauso gruselig wie ich, oder sie wollen San Marino vor dem Staatsbankrott retten, der ja unweigerlich anstünde, würde der Beitrag des Zwergstaates am Samstag siegen. Mehr als 30 Millionen Euro kostet die Show in Baku, Infrastrukturmaßnahmen in dreistelliger Millionenhöhe noch nicht eingerechnet. So etwas könnte San Marino im kommenden Jahr kaum stemmen.

Auch die Österreicher sind raus. Niemand wollte "Woki mit deim Popo" als positive Abstimmaufforderung begreifen. Auch die Schweizer, die mit "Unbreakable" wenigstens eine halbwegs ordentliche Rockmelodie anlieferten, es dann aber mit der korrekten Aussprache des Englischen nicht so ganz hinbekamen, dürfen wieder nach Hause fahren. Gleichfalls wird der Verrückte aus Montenegro, der sich als Euro-Neurotiker auf der Bühne inszenierte, das Finale am Samstag aus der Heimat verfolgen können.

Weiter ist dafür Albanien, ein Schreilied, das furchtbarer nicht sein könnte. "Suus" heißt das, was die "Sängerin" Ronan Nishliu da offenbar unter großen Schmerzen auf der Bühne gebiert, und schon jetzt sollte die Anweisung für den Samstag lauten: Bei diesem Beitrag leiser drehen. Oder besser für drei Minuten ganz abschalten.

Die Sympathie kommt spät

Es spricht für die Kultur des ESC, dass es in Baku durchaus nicht wenige Menschen gibt, die diesem Machwerk trotzdem gute Chancen einräumen. Man muss halt ein bisschen verquer sein, wenn man sich als ESC-Fan auf dieses Abenteuer immer wieder einlässt.

Weiter sind natürlich die russischen Omas, bei denen keiner aufs ziemlich dämliche Lied achtet. Alle verbeugen sich nur vor dem Alter. Gott sei Dank ist mit dem zyprischen Beitrag "LaLaLove" auch wieder einer mit viel "lalala" dabei. Ohne so etwas ist ein ESC ja quasi ungültig zu werten. Weil sie die beste Showinszenierung ablieferten, wird man auch die beiden irischen Showroboter von Jedward am Wochenende wiedersehen.

Um zwei Uhr ist die Show in Baku vorbei. Für die Ausgewählten werden im Pressezentrum noch rasch die Startplätze fürs Finale ausgelost, während sich die knapp 25.000 Zuschauer aus der Crystal Hall auf den Heimweg machen. Eine Stunde wuselt Baku noch. Dann beruhigt sich der Verkehr, dann legt sich auch das Meer kurz schlafen. Irgendwann regnet es ein bisschen. Das ist gut, das bindet den allgegenwärtigen Staub und treibt die allgegenwärtigen Polizisten und Security-Männer in ihre Autos oder Hauseingänge. Für einen Moment wirkt die Stadt morgens um drei Uhr tatsächlich ganz sympathisch.

© Süddeutsche.de/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Eurovision Song Contest in Baku
:Von Popo-Pop bis Amy-Winehouse-Hommage

Selten treffen so unterschiedliche Künstler aufeinander wie beim Eurovision Song Contest. In Baku steht neben singenden Omas, Engelbert Humperdinck und Gogo-Girls auch ein bekanntes Exzentriker-Duo auf der Bühne. Wie wird sich die deutsche Hoffnung Roman Lob schlagen?

Wer gewinnt? Stimmen Sie (vorab) schon mal ab.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: