Wohnen im Alter:Warum zehn Freunde seit fast 40 Jahren in einer WG zusammenleben

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Wohngemeinschaft beim gemeinsamen Frühstück am Wochenende in den Gemeinschaftsräumen in der unteren Etage der 'Elbburg' in Wedel, die WG existiert seit fast 40 Jahren (Foto: Maria Feck)

Die jüngste Mitbewohnerin der Hamburger Wohngemeinschaft ist 63 Jahre alt - und die einzige, die noch arbeitet.

Von Thomas Hahn, Hamburg

Wenn ihr etwas stinkt, kann es schon mal vorkommen, dass Elfi ans Wegziehen denkt. Aber die anderen sagen dann: "Das schaffst du nie." Und Renate "Elfi" Funck, 71, mag nicht wirklich widersprechen. Aus der WG in der Elbburg von Wedel kann sie nicht mehr so leicht raus, auch wenn sie in dieser Lebensphase freier denn je ist als alleinstehende Architektin im Ruhestand. Dass ihr Wesen hier Wurzeln geschlagen hätte nach knapp 40 Jahren, möchte man fast nicht glauben, wenn man bedenkt, wie beweglich und tatendurstig sie immer noch ist.

Trotzdem. Es ist was dran.

Die Wohngemeinschaft von einzelnen, unabhängigen, meist nicht miteinander verwandten Menschen ist so sehr Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit geworden, dass man nur noch zwei Buchstaben braucht, um sie zu bezeichnen. Die WG ist eine deutsche Institution: eine Zweckgemeinschaft auf Zeit, in der ganze Akademiker-Generationen zum ersten Mal erfahren haben, dass die Freiheit des Erwachsenenlebens auch eine Verantwortung mit sich bringt, einen Gemeinschaftskühlschrank und die Schicksalsfrage, wer während der Woche Putzdienst hat.

Eine WG mit neun Gesellschaftern

Aber wenn man jetzt an diesem hellen Samstagmorgen beim Frühstück in der Elbburg-WG von Wedel bei Hamburg sitzt, mit Elfi Funck und den anderen Bewohnern - dann bekommen die zwei Buchstaben einen ganz anderen Sinn. Dann steht die WG für ein Lebenskonzept auf Dauer, das wie ein Familien-Netzwerk funktioniert und mehr Freiheiten gewährt als einschränkt.

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Am runden Tisch sitzen, in muntere Gespräche vertieft, zehn alte Freunde, vier Ehepaare, zwei Singles, die sich auf ein gemeinsames Leben verständigt haben. Sie sind die Elbburg-WG, wobei man die Verhältnisse etwas genauer erläutern muss. Neun Gesellschafter hat die WG: Die Vellguths. Die Rohwers. Die Schumachers. Christian Engmann. Elfi Funck. Und Rainer Behrend, der allerdings fehlt, weil er mittlerweile in Ahrensburg lebt. Das vierte Paar bildet Engmann mit seiner Jugendliebe Elke Cassel-Becker, die er vor zehn Jahren geheiratet hat. Und die Schulleiterin Rita Wittmaak, mit 63 die Jüngste, als einzige nicht im Ruhestand, ist Mieterin.

Sie alle eint das Bekenntnis zur Gemeinschaft. Ist das nicht ein Widerspruch zum Zeitgeist, den doch Individualismus und Selbstverwirklichung prägen? Gar nicht, finden die Elbburg-Bewohner und führen ihre Argumente vor wie ein Orchester, das die Klänge jedes einzelnen Instruments zu einer Musik zusammenfügt. Zum Beispiel, wenn sie gemeinsam die Geschichte der WG erzählen.

WG-Leben seit fast 40 Jahren

Angefangen hat alles 1976, als Martin und Birgit Schumacher als junge Eheleute darüber nachdachten, mit den Rohwers zusammenzuziehen. "Eggert und ich lebten damals in einem Reihenhaus und die Miete sollte verdoppelt werden", erzählt Jutta Rohwer. Sie alle wohnten zunächst mit ein paar anderen Interessierten in einem Haus zur Probe, in einer Art "Trainingscamp". Das trennte WG-Freunde von WG-Skeptikern.

Dann gelang der Coup mit der Elbburg. Der elegante Backsteinbau von 1912 war erst ein Hotel, dann ein Bordell, dann ein Studentinnenwohnheim, ehe er zwangsversteigert wurde. Für 251 000 Mark bekamen die WG-Willigen die Villa von der zerstrittenen Erbengemeinschaft - ein Schnäppchen. "Wobei wir noch mal das Doppelte in den Umbau reingesteckt haben", sagt Christian Engmann. Das war 1977.

Die Belegschaft hat sich seither kaum verändert. Elfi Funck kam ein Jahr später dazu. Sie folgte dem Juristen, der den WG-Vertrag aufgesetzt hatte und prompt als Erster dessen Härten spürte: Wer weggeht, bekommt seinen Gesellschafter-Anteil erst nach zwei Jahren zurück.

Trotzdem ist die WG genau zu dem Halt für die Bewohner geworden, den sie sich von Anfang an erhofft hatten. Die ersten Kinder waren unterwegs, das Berufsleben nahm Fahrt auf, jeder konnte die Hilfe des anderen gebrauchen, immer war jemand da. Ihre Kinder haben sie im Grunde alle gemeinsam großgezogen. "Das ist eine Riesen-Erleichterung für eine berufstätige Frau", sagt Ute Vellguth, einst stellvertretende Leiterin einer Grund- und Hauptschule.

Jeder nimmt sich die Aufgabe, die ihm liegt, und entlastet damit die anderen. Reimer Vellguth, einst Geschäftsführer eines Gartenbau-Unternehmens, erledigt zum Beispiel die Verwaltung, Elfi Funck ist die erste Köchin. Lauter Individualisten gehen im Kollektiv auf - "und sind dadurch erst als Individualisten gewachsen", sagt Martin Schumacher.

Gruppenfoto - in etwas anderer Besetzung als heute - von 1979 vor der Haustür. (Foto: privat)

Er selbst saß in den Achtzigerjahren für die FDP im Kieler Landtag. Elfi Funck arbeitete lange in Rostock, Jutta Rohwer zeitweise in Köln. Wenn sie dann alle wieder zusammenkamen, entstand in den hohen Räumen der Elbburg so manche Idee. "Es ist so eine kleine Denkfabrik manchmal", sagt Birgit Schumacher. Die frühere Lehrerin hat das Wedeler Frauenhaus mitgegründet und die örtliche Gesamtschule.

100 Quadratmeter für die Paare, 50 für die Singles

Die Zutaten fürs Gelingen? "Liebe und Disziplin", sagt Birgit Schumacher. Ein bisschen zusammenreißen muss man sich schon in einer WG. Eine Psychologin hat sie mal darauf hingewiesen, wie sehr sie die Kinder verwirren könnten, wenn jeder Erwachsene mit einer anderen Meinung auf sie einreden würde. Den Tadel des einen trugen deshalb die anderen immer mit. Das fiel nicht immer allen leicht. Aber es ging, weil sie sich mochten.

"Sympathie ist durch nichts zu ersetzen", sagt Christian Engmann, "auch nicht durch Verwandtschaft." Falsche Pedanterie geht im gegenseitigen Vertrauen auf: 170 Euro zahlt jeder in die Lebensmittel-Kasse, damit kauft ein, wer kocht - niemand rechnet nach, ob er zu viel gezahlt haben könnte. Und das Thema Putzen fällt als Konfliktpunkt weg, weil es eine Haushälterin gibt.

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Martin Schumacher sagt: "Man lernt hier ganz gut, die Interessenlagen der anderen mitzudenken." Er führt aus der Lobby mit Bibliothek und Billardraum durchs Treppenhaus in die Wohnungen. 100 Quadratmeter haben die Paare, 50 die Singles. Der Elbburg-Kosmos besteht aus lauter kleinen, unterschiedlich eingerichteten Welten.

Und natürlich ist seinen Bewohnern bewusst, dass dieser Kosmos auch deshalb funktioniert, weil er eben keine notdürftig zusammengewürfelte Studenten-WG ist: Sondern ein Zirkel gut situierter Bildungsbürger, die auch mal aufs eigene Ferienhaus ausweichen können. Kein Neid, keine Konkurrenz. Jeder hat es schön genug. Martin Schumacher schaut vom Balkon seiner Dachgeschoss-Wohnung hinüber zur Elbe, auf der gerade ein mächtiges Schiff Richtung Hafen gleitet. Und ohne Pathos sagt er: "Wir sind total glücklich."

Am nächsten Abend beginnt das Essen am großen Tisch in der Lobby pünktlich um 19 Uhr. Oma Rose, 96, die Mutter von Martin Schumacher, ist wie immer zu Fuß mit dem Rollator gekommen. Auch eine Großnichte von Elfi Funck ist da sowie einer der beiden Vellguth-Söhne. Elfi Funck hat ein Drei-Gänge-Menü zubereitet, das es anderswo nur für viel Geld gäbe. Scheinbar ungerührt nimmt sie das Lob der Runde entgegen; ihr ist vor allem wichtig, dass auch an Abenden wie diesem Teamwork herrscht.

Ein vornehmer Humor liegt über der Szene, eine rege, ungekünstelte Harmonie. Es lagen hier auch schon Spannungen in der Luft. Nicht jeder kann jeden immer gleich gut finden. Aber so, wie es jetzt ist, kann man verstehen, warum diese wachen, witzigen Menschen auch nach all den Jahren noch alles versuchen, um zumindest an den Wochenend-Mahlzeiten teilzunehmen, wenn sie schon während der Woche nicht da sein können.

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Manchmal denkt Elfi Funck an einen Umzug

Später sitzt Elfi Funck etwas abseits und lässt die Gedanken schweifen. Sie ist eine seelenruhige Person, die keine Angst hat vor tiefen Gesprächen. Sie war mal mit Christian Engmann zusammen und auch schon verheiratet. Aber es liegt ihr nicht, gebunden zu sein. "Mit meinen ständigen Ansprüchen erschlage ich Menschen gerne."

Die WG ist für sie der ideale Kompromiss zwischen fester Beziehung und Unverbindlichkeit, auch wenn sie sich dabei nicht immer nur wohl fühlt. Elfi Funck sieht die stille Übereinkunft der Ehepaare, die ihr fehlt, und manchmal denkt sie dann tatsächlich ans Weggehen. Um sich gleich zu fragen: Wäre es wirklich besser, allein in einer kleinen Wohnung zu leben? Von Anfang an hat sie gesagt: "Ich möchte hier immer für alle kochen." Sie liebt das ewige Experiment, Zutaten in Speisen zu verwandeln. Aber was wäre ihr Kochen wert, wenn sie es nicht für die anderen täte?

"Du brauchst uns", sagen die anderen, "wir sind deine Plattform." Stimmt schon, denkt Elfi Funck. Sie kann ihr Wesen entfalten, weil die WG ihr den Raum dafür gibt.

© SZ vom 21.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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