"Wie ich euch sehe" - Alzheimerpatient:"Geht einfach über meine Vergesslichkeit hinweg"

"Wie ich euch sehe" - Alzheimerpatient: Wie ich euch sehe Demenz

Wie ich euch sehe Demenz

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Holger F. kann sich kaum noch Gesprächsinhalte oder Termine merken. Zum Glück hilft ihm seine Frau. Wie genau, erzählt der Alzheimerpatient in einer neuen Folge von "Wie ich euch sehe".

Von Viktoria Bolmer

In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Menschen zu Wort, mit denen wir im Alltag zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen: chronisch Kranke, eine Kontrolleurin, ein Pfarrer, eine Verkäuferin. Sie erzählen, wie es ihnen ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Patienten, Mitmenschen. Diesmal beschreibt Holger F. seinen Alltag mit der Diagnose Alzheimer.

Wenn ihr vor drei Tagen mit einem guten Freund ein Gespräch geführt habt, erinnert ihr euch mit ziemlicher Sicherheit daran. Zumindest an die wichtigsten oder interessantesten Punkte. Ich vergesse ganze Unterhaltungen, habe wenige Tage später absolut keine Ahnung mehr, worum es ging oder dass ich sie überhaupt geführt habe. Ich stehe dann mit Freunden zusammen, und merke: Sie denken, ich weiß, worum es geht. Weiß ich aber nicht. Das setzt mich unter Druck. Unruhig warte ich darauf, dass ein Stichwort kommt, das mir weiterhilft: Ich brauche von euch Schlagwörter, Anknüpfungspunkte, irgendeinen Strohhalm. Das wirkt wie ein Schalter, der die Erinnerung an das Ereignis wieder hervorruft.

Vor einem Jahr erhielt ich die Diagnose Alzheimer. Die Ärzte sagen, die Krankheit entwickle sich bei mir sehr langsam, und dass ich die nächsten zehn Jahre noch gut damit leben könne. Ich nehme meine Krankheit trotzdem als Makel wahr. Natürlich bin ich benachteiligt, wenn ich in Gesprächen nicht mehr weiß, worum es geht. Und verunsichert, vor allem, wenn ich Personen nicht gut kenne. Ich sage nicht jedem, dass ich Alzheimer habe. Das erzähle ich nur meinen Bekannten und Freunden.

Am wohlsten fühle ich mich, wenn ich in der Therapiegruppe mit anderen Betroffenen zusammen bin. Wir unternehmen gemeinsam etwas, gehen zum Beispiel Kegeln, oder sprechen über unsere Erfahrungen mit der Krankheit. Eigentlich darf ich das gar nicht laut sagen, aber: Zu sehen, dass es anderen Menschen noch schlechter geht als mir, macht es für mich leichter. Gleichzeitig hilft es mir, mich darauf einzustellen, was noch auf mich zukommt. Ich bin froh, noch einen Großteil meiner Fähigkeiten zu haben. Und genieße die Zeit, die mir bleibt.

Noch erinnere ich mich an die Namen meiner Freunde oder den meiner Frau. In der U-Bahn weiß ich, wo ich hinfahre und wo ich herkomme. Aber bei Terminen und Verabredungen, da wird es schwierig. Mit technischen Hilfen versuche ich, meine Aussetzer zu kompensieren oder auszutricksen. Die anstehende Geburtstagsparty eines Freundes vermerke ich in meinem elektronischen Kalender im Computer, der mit meinem Handy synchronisiert ist. Dann brummt oder klingelt es, wenn der Termin ansteht. Dabei muss ich sehr diszipliniert sein: Ich darf die elektronischen Erinnerungen nicht ignorieren und muss immer alles sofort eintragen. Ich würde Verabredungen oder Einladungen sonst vergessen.

Eine große Hilfe ist meine Frau. Wir haben eine gemeinsame E-Mail-Adresse, so kann nichts verloren gehen. Sie beherrscht auch das "Schlagwort-System" sehr gut. Wenn sie in einem Gespräch merkt, dass mir gerade die Erinnerung fehlt, weiß sie genau, was sie sagen muss, um das Ereignis für mich wieder präsent zu machen.

Wenn ich einen Film im Fernsehen anschaue, erinnere ich mich Tage später kaum mehr an die Handlung. Das konnte ich war zwar noch nie so gut, durch die Krankheit wird es aber drastischer. Deutlicher bleibt mir ein Film im Gedächtnis, wenn ich ihn im Kino ansehe, also ein besonderes Ereignis damit verknüpfen kann und nicht nur nebenbei auf dem Sofa zu Hause fernsehe.

Erste Diagnose: Belastungsdepression

Vor drei Jahren fing es an. Mein Gedächtnis wurde schlechter. Ich bin 61 Jahre alt, habe viele Jahre als Ingenieur gearbeitet. Wenn ich so darüber nachdenke - vielleicht hat sich die Krankheit bei mir auch schon früher manifestiert. Die meisten Vergesslichkeiten konnte ich durch verstärkte Aufmerksamkeit und mehr Konzentration überbrücken. Trotzdem nahmen meine Kollegen die Veränderung wahr.

Einmal bat mich mein Vorgesetzter, ein bestimmtes Thema im Projektmeeting zu vertreten. Er selbst konnte nicht anwesend sein, der Punkt war aber wichtig für den Entschluss der Besprechung. Zum Zeitpunkt der Konferenz hatte ich aber unsere komplette Unterhaltung vergessen. Er machte mich natürlich zur Schnecke. Also ging ich zum Neurologen.

Die erste Diagnose lautete Belastungsdepression. Meinen Kollegen, die von meiner Vergesslichkeit sowieso schon genervt waren, genügte die Erklärung. Als meine Abteilung Personal entlassen musste und Abfindungen anbot, war ich mit dabei. Zu dem Zeitpunkt hatte ein Arzt die Diagnose bereits korrigiert: Alzheimer, nicht Burn-out. Meinem Chef und den Kollegen gegenüber verschwieg ich die Krankheit.

Von euch Kollegen hätte ich mir gewünscht, dass ihr mehr Verständnis für meine Symptome habt. Dass ich euch die Wahrheit hätte erzählen können. Im Gegensatz zu Alzheimer ist Burn-out in großen Unternehmen eine akzeptierte Krankheit, weil sie eine Konsequenz des Leistungsdrucks ist, dem man unterworfen war. Außerdem ist sie heil- und therapierbar. Alzheimer ist es nicht.

Ihr habt mir das Gefühl gegeben, meine Vergesslichkeit sei eine Schwäche. Wenn ich dann auch noch gesagt hätte, dass die Ursache Alzheimer ist - ihr hättet mich als Mensch mit einer solchen Behinderung wohl nicht mehr ernst genommen. Dabei hätte ich gerne in der Firma weiter gearbeitet. Wenn ihr die Bereitschaft gezeigt hättet, mit meiner Krankheit umzugehen.

Andererseits: Wenn ich mir vorstelle, wie ich selbst in der Situation meiner Kollegen auf jemanden wie mich reagiert hätte - womöglich hätte ich mich nicht unbedingt anders verhalten.

Ich glaube, für euch ist es die einfachste Lösung, wenn ihr über meine Vergesslichkeit einfach hinweggeht. Vor allem, wenn ihr nicht wisst, wie ihr damit umgehen sollt. Auch ich fühle mich damit im Moment noch wohler. Trotzdem wünsche ich mir von euch, dass ihr mehr über die Krankheit erfahrt und es so vielleicht irgendwann Platz in der Gesellschaft gibt, offen darüber zu sprechen.

In dieser Serie kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht und welche Rolle wir dabei spielen - als nervige Kunden, ungeduldige Patienten, ignorante Mitmenschen.

  • "Brauchen wir länger, tut uns das genauso weh"

    Ständig unter Strom und trotzdem meist zu spät: Ein Pizzabote erzählt, was er riskiert, um seine Lieferung möglichst schnell zum Kunden zu bringen. Und warum er sich oft wie ein Detektiv vorkommt.

  • "Die meisten wollen mich anfassen"

    Zum Jahreswechsel werden wieder kleine Schornsteinfeger-Figuren verteilt. Ein Kaminkehrer erzählt in einer Folge von "Wie ich euch sehe", wie es sich als rußüberzogener Glücksbringer lebt.

  • "Manchmal muss ich regelrecht die Tür verteidigen"

    Frauen, die sich um Ausscheidungen sorgen, Familien, die den Kreißsaal stürmen, Männer, die plötzlich umfallen: Eine Hebamme erzählt in einer Folge von "Wie ich euch sehe", was sie bei Geburten erlebt.

Denn bisher ist das Verständnis für Alzheimer nur rudimentär. Vielleicht liegt es daran, dass zu wenige Menschen jemanden mit Demenz oder Alzheimer kennen. Womöglich kennt ihr doch jemanden - und wisst es nur nicht.

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