Tanzcafé für Demenzkranke:Schwofen gegen das Vergessen

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Etwa eine Million Menschen leiden deutschlandweit an Alzheimer. Eine Möglichkeit, die Krankheit aufzuhalten, gibt es nicht. Aber es gibt einen Ort, an dem sie keine Rolle spielt: In einem Tanzcafé entfliehen Demenzkranke ihrem Alltag.

Sophia Lindsey

Das Lied kommt Dagmar B. bekannt vor. Sie hat es schon einmal gehört, irgendwann. "Ich kenne die Melodie, aber den Text habe ich vergessen", sagt die 82-Jährige. Sie wird den Satz noch vier oder fünf Mal sagen an diesem Nachmittag und dann leise mitsummen. Dagmar B., die eine pastellfarbene Bluse und einen modischen Kurzhaarschnitt trägt, weiß vieles nicht mehr: Wie alt sie ist, wie ihre Kinder heißen, ob ihr Mann noch lebt oder nicht. Doch die Melodie zu dem Schlager Rote Lippen soll man küssen ist noch da. Sie ist ihr geblieben, irgendwie.

Eine Frau tanzt mit ihrer demenzkranken Mutter. Das Münchner Musik- und Tanzcafé ermöglicht Angehörigen und Betroffenen eine Auszeit vom Alltag. (Foto: Alzheimer Gesellschaft München)

"Musik ist in vielen Gehirnbereichen gespeichert und kann sehr lange erinnert werden", weiß Angelika Kern, Sozialpädagogin bei der Alzheimer Gesellschaft München. Das Erinnern ist Dagmar B. und den anderen Menschen, die sich heute im Alten- und Service-Zentrum Altstadt eingefunden haben, Stück für Stück abhandengekommen. Mit ihrem Musik- und Tanzcafé für Demenzkranke hat die Sozialpädagogin einen Raum geschaffen, in dem das keine Rolle spielt. "Für kurze Zeit wird die Demenz zurückgestellt. Sie ist nicht mehr wichtig." Dann deutet die Sozialpädagogin auf die Tanzfläche. "Man würde nie denken, dass diese Menschen dement sind."

Vielmehr sind es einfach Menschen, die sich zu zweit im Walzerschritt bewegen, die sich zu dritt oder viert an den Händen gefasst haben und lachend einen Ringelreigen bilden. Ein älterer Herr mit Halbglatze schmiegt sich an seine Partnerin und schließt die Augen zu den Klängen, die ein betont gutgelaunter Herr im Sakko seinem Keyboard entlockt. Zweieinhalb Stunden nichts weiter außer tanzen, in dem hellen Raum mit den knallgelben Vorhängen und dem kirschroten Holztischen, die Angelika Kern an diesem Tag mit Tulpenvasen dekoriert hat: Jeden letzten Freitag im Monat besuchen Erkrankte mit ihren Angehörigen, Pflegern und Partner das Münchner Hinterhofcafé und entfliehen ihrem Alltag.

Diesen prägen zumeist Erlebnisse des Scheiterns. Weil sie mit dem Fernseher, der doch fünfzig Jahre lang so einfach zu bedienen war, nichts mehr anzufangen zu wissen. Weil der Partner vielleicht mit Unverständnis reagiert. Hundertmal hat er schon erklärt, wofür der rote Knopf da ist, wie man sich bloß so anstellen kann!

"Vorfälle wie diese wirken sich stark auf das Lebensgefühl des Betroffenen aus. Sie erzeugen Frustration, die in Trauer, Depression, aber auch in Aggressivität münden kann", sagt Friedemann Müller, Chefarzt der Neurologischen Klinik Bad Aibling und Leiter des dortigen Alzheimer-Therapiezentrums.

Die Melodien sind ihr vertrauter als der eigene Sohn

Von negativen Gefühlen ist bei Dagmar B. nichts zu spüren, als sie von ihrem Apfel-Rosinen-Kuchen kostet, an der Kaffeetasse nippt und dem Keyboard-Spieler lauscht. Wenn die alte Dame eine Pause macht, weil die Knie nicht mehr so wollen wie früher, beobachtet sie begeistert die anderen Tanzenden: "Guck doch mal, die Dame dort ist größer als der Herr. Wie nett!"

Hin und wieder fordert ein Betreuer, den sie als ihren Schwiegersohn vorstellt, Dagmar B. zum Tanzen auf. Dann schwoft das ungleiche Paar im Takt zu What a Wonderful World und Sag mir Quando über die Tanzfläche - Melodien, die ihr vertrauter sind als all die Menschen, die ihr täglich begegnen. Die sie besser kennt als ihren eigenen Sohn, den sie manchmal für ihren Bruder hält.

"Musik ist sehr emotional besetzt", sagt Sozialpädagogin Kern. Und was noch viel wichtiger ist: "Sie ist anspruchslos." Chefarzt Müller bestätigt das. "Musik muss nicht mit kognitiven Anforderungen einhergehen", sagt er. Sie lasse aber dennoch eine aktive Teilnahme zu, darüber hinaus bleibe die Beweglichkeit sehr lange erhalten.

"Do you remember, when ...": Die Senioren genießen den Tanznachmittag in der Münchner Altstadt. (Foto: Andreas Heddergott)

Ein Blick aufs Parkett beweist das. Die Tanzfläche ist rappelvoll. Am Rand sitzt eine 84-jährige Besucherin mit Spängchen im ergrauten Haar und bewegt sich mit erhobenen Händen in ihrem Stuhl zur Musik. "Mal sehen, ob ihr das noch draufhabt", ruft der Mann hinter dem Keyboard und stimmt die nächste Nummer an: Let's twist again. "Do you remember when ...", fragt Chubby Checker in dem Song. Wenn das Leben rückwärts läuft, erlangen Textzeilen wie diese neue Bedeutung.

Deutschlandweit gehen Ärzte laut Müller von etwa einer Million Alzheimerpatienten aus. Die Zahl steigt, doch das Voranschreiten der Krankheit lässt sich nicht verhindern, nur verlangsamen. Zahlreiche deutsche Städte bieten erfolgreich Tanzveranstaltungen für Erkrankte an. "Beim Tanzen geht es nicht darum, ein selbst- oder fremdgesetztes Ziel zu erreichen", sagt Müller, "sondern darum, das Selbstwertgefühl der Patienten zu erhalten, ihnen Freude zu vermitteln."

Das funktioniert bei Aktivitäten wie Malen, Singen oder Tanzen besonders gut, weil das Erlebnis keinerlei Leistungskriterien beinhaltet. Mal abgesehen davon, dass immer nur spazieren zu gehen, auf Dauer langweilig werde, findet Sozialpädagogin Kern.

"Die Menschen sind aufgeweckter und kontaktfreudiger", beschreibt die Sozialpädagogin ihre Eindrücke. "Wenn sie ankommen, begrüßen sie sich freudig", sagt Kern. Ob sie sich erkennen oder einfach nur froh sind, freundliche Gesichter zu sehen, weiß sie nicht. "Selten tanzen zwei Erkrankte miteinander", berichtet der Neurologe Müller von seinen eigenen Erfahrungen mit Tanzveranstaltungen des Alzheimer-Therapiezentrums, "aber die Freude, die man im Gesicht der anderen sieht, spielt eine große Rolle".

Ein Abend im Tanzcafé kostet die Alzheimer Gesellschaft rund 200 Euro - eine sinnvolle Investition, wie Müller betont: "Das sind immer noch Menschen, die ein Recht auf Menschenwürde haben", sagt der Mediziner. "Und das sollte die Gesellschaft nicht aus den Augen verlieren."

Nur kleine Momente offenbaren, dass sich hinter dem schönen Bild eine schwere Krankheit verbirgt: Wenn die Dame mit den Spängchen im Haar auf einmal zu weinen beginnt, einfach so, während sie die Hand ihrer Tochter umklammert hält wie ein Kleinkind. Oder wenn Dagmar B., die eben noch den Kuchen lobte und über ein besonders schwungvoll tanzendes Paar schmunzelte, plötzlich beunruhigt aufspringen will: "Wo sind denn meine Kinder? Wissen Sie, wo meine Kinder hingegangen sind?"

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