SZ-Serie: Kinder, Kinder:Kevin, bitte ins Kinderparadies!

Lesezeit: 5 min

Unicef, Arche, Save the Children: Alle legen sich für die Kinder ins Zeug. Theoretisch müsste die heutige Welt also ein Eldorado für Heranwachsende sein. Theoretisch.

Martin Zips

Am Wiener Burgtheater feierte dieser Tage eine Neuinszenierung des "Struwwelpeter" Premiere. Struwwelpeter? Das ist doch das Kinderbuch, in dem ein ungehorsames Mädchen namens Paulinchen verbrennt und ein durchgeknallter Schneider dem Daumenlutscher Konrad den Finger abschneidet. Am Burgtheater hingegen zieht das Paulinchen lediglich seine Ballettschuhe aus und legt sich auf ein Aschehäuflein. Der Schneider ist nichts anderes als ein harmloser Schattenriss. Kein Blut, kein Horror, kein Skandal. Der Regisseur, schrieb der Wiener Standard, nehme in seiner Inszenierung "die Kinder in Schutz". Sein "Struwwelpeter" sei vor allem ein "Abrechnungsabend mit den Eltern".

Früher wurden Kinder als kleine Erwachsene gesehen: So soll der spätere Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1861 ausgesehen haben. Da war er zwei Jahre alt. (Foto: Foto: Getty Images)

Nicht dass der Regisseur da was missverstanden hätte. Seine Inszenierung liegt voll im Trend. Kinder sind heutzutage alles. Und nicht nur ihre Eltern müssen sich zurücknehmen.

Glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, da der kleine Moses mutterseelenallein im Nil trieb, Gott Kronos seinen Sohn Zeus verspeisen wollte und allein eine Wölfin sich der Buben Romulus und Remus erbarmte. Heute wird schon während der Schwangerschaftsgymnastik über den neuen Bericht zur Kinderarmut diskutiert, in der Garderobe der Krabbelgruppe geht es um die aktuellen Geburtenzahlen im Lande. Auch vor dem Kindergarten stehen Eltern und reden, ob es die "Kevins" und "Chantals" später in der Schule besonders schwer haben könnten, wie eine Studie behauptet, und was man als Eltern dagegen tun kann.

Aristoteles nannte Heranwachsende: unschöne Zwerge.

Wurden Kinder zu seiner Zeit in der Kunst thematisiert, so wirkten ihre Körper oft merkwürdig proportioniert, ihre Gesichter rätselhaft unkindlich. Heute sagt jedes Kind im Fotostudio dreimal laut "Grießbrei", damit es später auf dem Bild so richtig fröhlich aussieht.

Kinder, eine sichere Bank

Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit bekamen Kinder mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hatten mehr Rechte und mehr Fürsprecher als heute. Eltern und Heranwachsende stehen sich gleichsam auf Augenhöhe gegenüber. Allein in Deutschland befassen sich mehr als 150 Fachzeitschriften mit dem Komplex Kinder, Erziehung und Familie, fast täglich erscheinen neue Bücher zum Thema. Mal heißen sie: "Wickelpedia", mal "Hilfe, wir sind schwanger". Millionen von Müttern und Vätern sind auf der Suche nach der richtigen Raumtemperatur (Säuglingstod verhindern), der gesündesten Ernährung (Allergien verhindern), dem familienfreundlichsten Wohnort (Asthma verhindern) und den geeignetsten Spielkameraden (sozialen Abstieg verhindern).

Als es noch keine Rentenversicherung gab, da waren Kinder in erster Linie eine sichere Bank. Noch musste sich niemand mit der Frage beschäftigen, welches wohl der beste Ort für den Altersruhesitz ist: Teneriffa, Ibiza oder Hua Hin. Noch ging es ums nackte Überleben. Noch entschied der Familienvater über das Schicksal der Neugeborenen.

Nein, diesen Zeiten muss man nicht nachtrauern. Dank Christentum und Aufklärung wurde die Kindheit als eigene wichtige Phase im Leben des Menschen erkannt. "Alles, was aus der Hand des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen der Menschen", schreibt Jean-Jacques Rousseau 1762 zu Beginn seines Romans "Émile", dem sicher meistzitierten Erziehungsbuch der Neuzeit. Rousseau setzt auf Sport, Handwerk und Naturbeobachtungen, um Kinder auf den richtigen Weg zu bringen. Pädagogen wie Pestalozzi oder Montessori orientieren sich daran.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die heutige Gesellschaft ein Paradies für Kinder ist - zumindest theoretisch ...

Studie: Kindernamen und Vorurteile
:Schlaue Marie, dummer Kevin

Der Name eines Kindes kann für dessen Bildungschancen entscheidend sein. Eine Studie belegt: Bei bestimmten Vornamen haben viele Lehrer negative Assoziationen.

Eine schöne Kindheit, so steht fortan fest, ist eine gute Basis für das Leben. Heute überlegen Eltern, ob sie ihr Kind schon mit sechs oder doch besser erst mit sieben Jahren in die Schule schicken sollen. Ehemals bringt ein Johann Wolfgang von Goethe als liebender Opa seinen erst vier Jahre jungen Enkeln Lesen und Schreiben bei.

Früher wurden Kinder als kleine Erwachsene gesehen: So soll der spätere Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1861 ausgesehen haben. Da war er zwei Jahre alt. (Foto: Foto: Getty Images)

Freilich geht es nicht überall derart gutbürgerlich zu, wie ein Blick auf die Ratgeberliteratur dieser Tage zeigt. Ein 1790 veröffentlichtes Handbuch mit dem Titel "Charakteristik der Erziehungsschriftsteller Deutschlands" kennt fast 400 Autoren und mehr als 1000 Buchtitel zum Thema. Es gibt also damals schon einen Boom der Erziehungsliteratur. Nur dass die Autoren - ganz anders als heute ein Michael Winterhoff - seinerzeit auch mal empfehlen, den Nachwuchs auf öffentliche Hinrichtungen mitzunehmen, an den Stuhl zu fesseln oder ins kalte Wasser zu werfen. Kinder sind ja kleine Erwachsene, die man ruhig auch mal hart rannehmen darf.

Der Braunschweiger Pädagoge Joachim Heinrich Campe berichtet 1787 begeistert von einer Maßnahme gegen Onanie: Mit "tugendhaftem Heldenmut" habe sich ein Junge einen Draht über seinen Penis gezogen, schreibt er. Nun sei bei dem Knaben Schluss mit lustig.

Auch Ammen sind zu dieser Zeit gefragt: Von den 21.000 Kindern, die 1780 in Paris zur Welt kommen, werden 95 Prozent sofort nach der Geburt in die Obhut von Ersatzmüttern gegeben. Oft bleiben die Kinder dort jahrelang. Eine Flut von medizinischen Ratgebern beschäftigt sich mit den Anforderungen, die an eine gute Amme zu stellen sind.

Die perfekte Amme

Sie soll, so der Konsens, "mäßig große, nicht schlaff hängende Brüste" und eine "sanfte Gemüthsart" haben. Vor weiß- oder rothaarigen Ammen rät der Berliner Geburtsarzt Hauck ab, da diese meist nur eine wässrige und dünne Milch abgäben und zu Zornesausbrüchen neigten. Was die Erziehung der Kinder angeht, so gibt Johann Georg Sulzer in seinem Buch die Losung aus, in den ersten Lebensjahren auch ruhig regelmäßig "Gewalt und Zwang" anzuwenden. "Die Kinder vergessen mit den Jahren alles."

Angesichts solcher, aus heutiger Sicht bizarrer Realitäten, müssen die Horrorgeschichten des 1845 erstmals veröffentlichten "Struwwelpeter" für die Kinder dieser Tage geradezu eine heitere Auseinandersetzung mit der eigenen Situation gewesen sein. Andererseits, so fragt man sich um die Jahrhundertwende: Wäre es nicht theoretisch denkbar, dass Kinder eine eigene Psyche besitzen? Klar, meint nicht nur Sigmund Freud, gerade deshalb brauchen sie Zuwendung und Rücksicht. Die professionelle Pädagogik entwickelt sich - und Mutter und Vater verschwinden zum Arbeiten in der Fabrik. Die Kluft zwischen der Kinder- und der Erwachsenenwelt wird größer, wie der Historiker Philippe Ariès beklagt.

Rund oder eckig?

Die heute weitverbreitete Auffassung, das Kind sei ein gleichberechtigter Partner, der sich überall frei entfalten darf ("Sag mal, Laura, willst du lieber den runden oder den eckigen Lebkuchen?"), gibt es als breite gesellschaftliche Bewegung erst seit wenigen Jahren. Erwachsene, so die Überzeugung, sollten vor allem Freunde und Anwälte der Kinder sein, nicht ihre Bevormunder.

Mittlerweile legt sich eine gewaltige Anzahl von Gruppen für Kinder ins Zeug: Unicef, Die Arche, Save the Children. Nie zuvor hat man sich in großen Teilen der Welt mehr Gedanken über den Nachwuchs gemacht. Und nie gab es eine größere Anzahl kindgemäßer Angebote. Jetzt, genau 20 Jahre nach Verabschiedung der Kinderrechtskonvention durch die UN-Generalversammlung, werden Kinder in vielen Ländern tatsächlich als junge Bürger betrachtet - durchaus fähig, ihre Ideen auch selber zu formulieren. Myriaden von Artikeln, Büchern, Filmen, Paragraphen und Initiativen tragen zur Erziehung ihrer Erzieher bei.

Theoretisch also müsste es sich bei der heutigen Welt um ein Paradies für Heranwachsende handeln. Für Kinder vieler wohlhabender Familien, die behütet im eigenen Zimmer neben Playmobil und Playstation aufwachsen, mag das zutreffen. Doch dann gibt es auch noch all jene Familien, die pleite sind, überfordert und hilflos. Täglich hört man von neuen Verzweiflungstaten. So gesehen hat sich dann doch nicht viel zum Besseren gewendet, in den vergangenen 3000 Jahren.

© SZ vom 02.10.2009/aro - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Promi-Kindernamen
:Kardashian-Spross heißt North West

Nordwesten: eine ganz gewöhnliche Himmelsrichtung. Eher ungewöhnlich ist es hingegen, wo diese ab sofort zu lesen ist - nämlich in der Geburtsurkunde von Kim Kardashians Tochter. Doch mit ihrem befremdlichen Namen ist das Promikind in bester Gesellschaft.

skurriler Promi-Kindernamen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: