Schwangerschaft:Tabuthema Fehlgeburt: Warum niemand darüber redet

Schwangerschaft: Zur Trauer nach einer Fehlgeburt kommt oft noch ein Gefühl von Einsamkeit.

Zur Trauer nach einer Fehlgeburt kommt oft noch ein Gefühl von Einsamkeit.

(Foto: imago stock&people)

Mindestens jede fünfte Schwangerschaft endet mit einer Fehlgeburt. Für die Betroffenen ist das Schweigen oft unerträglich.

Von Anna Fischhaber

Wenn Monika Liebner gefragt wird, wie viele Kinder sie hat, sagt sie manchmal noch immer sechs. Vier lebendige und zwei tote. Oft blickt sie dann in entsetzte Gesichter. Ihre Offenheit über die zwei Fehlgeburten verstört ihre Umwelt. Dabei hilft es Liebner nach wie vor, darüber zu sprechen. 1997, als sie ihren ungeborenen Sohn Paul in der 14. Woche abtreiben lassen musste, weil er nicht überlebensfähig war, sei das Bedürfnis zu reden riesig gewesen, erzählt Liebner. Sie wollte trauern, wollte ihren Schmerz zeigen. Doch in ihrem kleinen Heimatdorf sprach man nur hinter vorgehaltener Hand über eine Fehlgeburt.

Aus der Not heraus hat Monika Liebner damals eine Homepage entworfen und ihre Geschichte im Internet erzählt. Unzählige Mails trauernder Mütter waren die Antwort. "Bald waren die Zuschriften so zahlreich, dass ich sie gar nicht mehr beantworten konnte", erzählt sie. "Das hat mich emotional überfordert." Ein Jahr später brachte sie eine gesunde Tochter zur Welt. Zeitgleich gründete Liebner eines der ersten Online-Foren, über das sich Betroffene untereinander austauschen können. Als sie einige Jahre später wieder ein Kind verlor - in der neunten Woche hörte das kleine Herz in ihrem Bauch einfach auf zu schlagen - war es dieser Austausch, der ihr über die schwere Zeit hinweghalf.

Monika Liebner und ihre Mitstreiter haben seitdem viel erreicht: In Selbsthilfegruppen wird inzwischen online und offline über glücklose Schwangerschaften und stille Geburten gesprochen, auch Babys unter 500 Gramm landen nicht mehr einfach im Klinikmüll, sondern können würdevoll bestattet werden. Vom Standesamt bekommt man eine Geburtsbescheinigung für das tote Kind und die Krankenkasse bezahlt - auch wenn das noch immer wenige wissen - bei einer Fehlgeburt vor der 24. Schwangerschaftswoche eine Hebamme. Nur offen reden über das Leid, das keiner sieht, trauen sich noch immer die wenigsten.

Facebook-Gründer Mark Zuckerberg gehört zu den wenigen, die sich getraut haben. Er hat nicht nur die Schwangerschaft seiner Frau, sondern auch die drei Fehlversuche, die das Paar zuvor erlebt hatte, öffentlich gemacht. "Du fühlst dich so hoffnungsvoll, wenn du erfährst, dass du ein Kind bekommst. Du stellst dir vor, wie es wird und träumst von seiner Zukunft. Du machst Pläne, und dann ist es plötzlich weg", schreibt er in einem Facebookpost. Wie Monika Liebner 20 Jahre zuvor hat er die Erfahrung eines toten Kindes vor allem als "einsam" empfunden.

Die meisten Menschen würden nicht über eine Fehlgeburt sprechen, weil sie befürchteten, andere könnten sich zurückziehen oder nur noch das Unglück mit einem verbinden, glaubt Zuckerberg. Als wäre man fehlerhaft oder hätte irgendetwas falsch gemacht. "Und so kämpft man für sich allein." Dabei bringe einen das Gespräch zusammen - und gebe Hoffnung. Erst als seine Frau und er angefangen hätten, mit Freunden darüber zu sprechen, hätten sie realisiert, wie häufig Fehlgeburten sind: "Viele Menschen, die wir kennen, hatten ähnliche Probleme und fast alle haben danach gesunde Kinder bekommen."

Viele Paare, die über eine Fehlgeburt sprechen, hören überraschende Geständnisse. Von der langjährigen Kollegin, den besten Freunden, manchmal sogar von der eigenen Mutter. Wer seine Erfahrung wie Monika Liebner ins Netz schreibt, erhält sehr viele Zuschriften. Wie alltäglich Fehlgeburten sind, bestätigen auch Mediziner: Zwar gibt es keine Statistik, Frauenärzte gehen aber davon aus, dass mindestens jede fünfte Schwangerschaft glücklos endet, manche sprechen sogar von jeder dritten. Die Dunkelziffer ist vermutlich hoch.

Für Mediziner ist eine Fehlgeburt Alltag, sie gehört zum Kinderkriegen dazu. Die meisten Frauen wissen dagegen nicht, wie oft Babys im Bauch sterben, weil niemand darüber spricht. Weil das Thema, obwohl es so viele betrifft, noch immer ein Tabu ist. Zur Trauer kommen dann oft Schuldgefühle. Hätte ich auf die Bergtour lieber verzichten sollen, fragen sich Betroffene. Oder auf die Schmerztablette? War die Party zu stressig? Oder das Meeting?

"Medizinisch gesehen ist das Unsinn", sagt Frauenärztin Claudia Schumann, Vizepräsidentin der Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Der häufigste Grund für eine frühe Fehlgeburt sei eine genetische Störung, die sich aber oft nicht nachweisen lasse. Eine Laune der Natur. "Die moderne Medizin vermittelt den Eindruck, alles ist möglich. Aber eine Schwangerschaft ist ein hochkomplexer Prozess, da passiert so viel, ohne dass man medizinisch eingreifen kann." Ärzte müssten den betroffenen Frauen deutlich machen, wie häufig Fehlgeburten seien - ohne den Verlust herunterzuspielen.

"Die Frauen sind ja nicht nur auf Probe schwanger, sondern wirklich"

Meist beginnt das Schweigen schon mit dem positiven Schwangerschaftstest. Frauen wissen heute immer früher, wenn sie ein Kind erwarten, dennoch halten viele diesen Umstand lange geheim. Weil in den ersten zwölf Wochen die Gefahr größer ist, das Baby zu verlieren. Weil der Arzt vielleicht dazu rät, sich noch nicht zu sehr zu freuen. Weil man das eben so macht. Weil die Frauen glauben, eine Fehlgeburt wäre dann weniger schlimm. Doch das Gegenteil ist oft der Fall.

"Die Frauen sind ja nicht nur auf Probe schwanger, sondern wirklich", sagt Heidi Blohmann, Hebamme und Trauerbegleiterin in Hannover. Eine Bindung zum ungeborenen Kind könne schon in den ersten Tagen entstehen. Wenn dann etwas schiefgeht, brauchen Frauen einen Gesprächspartner. Jemanden, der zuhört. "Aber genau hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Wenn ich meine Freude nicht mitgeteilt habe, ist es noch schwerer, meine Trauer mitzuteilen", warnt Blohmann.

Hinzukommen Zweifel an der eigenen Weiblichkeit: "Eine Fehlgeburt kratzt am eigenen Selbstwertgefühl. Viele erleben sie als Versagen des eigenen Körpers", sagt Blohmann. Ihre Patientinnen fragten sich oft: Was bin ich für eine Frau? Wieso schaffen es alle anderen, gesunde Kinder auf die Welt zu bringen, nur ich nicht? Dass es meist kein Warum gibt, sei für viele schwer zu akzeptieren.

Viele Frauen würden sich auch nicht trauen, zu trauern, glaubt Blohmann. Weil das tote Baby im Bauch in der Gesellschaft nicht als Kind gilt, solange es noch kein Gesicht hat. Solange die Eltern die Stimme nicht gehört haben oder es ein Video von den ersten Gehversuchen gibt. Weil Frauen nach einer Fehlgeburt nicht als Mütter anerkannt werden, auch wenn sie sich so fühlen. "Viele denken ihre Trauer wäre nicht so wichtig, wäre vielleicht sogar übertrieben, eben weil so wenig über Fehlgeburten gesprochen wird", sagt Blohmann.

Hebamme rät zur Offenheit

Nicht nur Betroffene leiden unter dem Schweigen, auch die Gesellschaft tut sich schwer, wenn das Thema dann doch einmal zur Sprache kommt. Monika Liebner war mit dieser Hilflosigkeit immer wieder konfrontiert: "Manche wissen nicht, was sie sagen sollen und ziehen sich zurück. Andere versuchen den Verlust mit Kommentaren wie 'War ja nur ein Zellhaufen' oder 'Wäre eh behindert geworden' kleinzureden - und machen es damit nur noch schlimmer", erzählt sie. Dabei sei es eigentlich ganz einfach: "Kluge Ratschläge gibt es in so einer Situation sowieso nicht, eher läuft man Gefahr, das Falsche zu sagen", sagt Liebner. "Es reicht völlig, da zu sein und zuzuhören."

Doch dafür müssen die Betroffenen ihr Schweigen erst einmal brechen. Hebamme Blohmann rät ihren Patientinnen deshalb zu Ehrlichkeit: "Viele wollen nach einer Fehlgeburt vor mir wissen, wie sie beispielsweise in der Arbeit mit ihrer Trauer umgehen sollen. Ich rate ihnen dazu, offen darüber zu reden." So wie man eben auch über ein gebrochenes Bein redet. Oder zumindest über eine schwere Krankheit. Eine Fehlgeburt zu verleugnen und die Trauer für sich zu behalten, mache es nur noch schlimmer, sagt Blohmann.

Das hat auch Monika Liebner erlebt. Sie hat nicht nur zwei Kinder verloren, sondern auch als Teenager einige Fehlgeburten ihrer Mutter miterlebt. "Sprecht nicht mit Mama darüber, das macht sie noch trauriger", habe ihr Vater damals gesagt. Nur: Nicht nur die Mutter, auch die Geschwister hatten sich auf den Familienzuwachs gefreut - und nun einen Verlust zu verarbeiten. "Als ich Paul verloren habe, kam diese Trauer wieder hoch", sagt Liebner.

Auch sie habe sich anfangs schwergetan, mit ihren Kindern darüber zu reden. Zu sehr sei sie zunächst in ihrer eigenen Trauer gefangen gewesen. Dann entschied sie sich, anders damit umzugehen. Offener. Nicht nur im Netz, sondern auch daheim. Lange hat die Familie die Geburtstage der zwei toten Kinder gefeiert. Noch heute, nach so vielen Jahren, denkt Liebner an sie. Und manchmal spricht sie noch immer von ihren sechs Kindern - und hofft, dass die Menschen irgendwann weniger entsetzt reagieren.

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