Marathon:Die Götter müssen verzückt sein

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Ein 71-Jähriger, der seinen 503. Marathon in Tunika läuft und Bedenkenträger, die Laufen für sehr gefährlich halten: Ein Marathon in Marathon.

J. Temsch

Marathon macht es seinen Anhängern nicht leicht an diesem Sonntagmorgen. Grau verhangen ist der Himmel über der Ebene und der gleichnamigen Ortschaft an der griechischen Ostküste. Es schüttet, als würden die Götter des Olymps mit Wassereimern aufeinander losgehen.

Der 71-jährige Aristoteles Kakogeorgiou läuft dem antiken Vorbild hinterher. Es ist sein 503. Marathon. (Foto: Foto: Smile Press/ P.K.Trichias)

Ein Wetter, bei dem man nicht so recht weiß, was man anziehen soll, wenn man 42,195 Kilometer laufen, aber nicht auskühlen will. Windjacke oder nur T-Shirt? Mütze? Handschuhe? So etwas fragen sich die meisten Teilnehmer des "Athens Classic Marathon", der vor zwei Wochen zum 27. Mal stattgefunden hat.

Aber für Aristoteles Kakogeorgiou war die Sache völlig klar, als er bei Tagesanbruch vor seinem Kleiderschrank stand: Er wählte eine weiße Tunika, die ihm gerade einmal bis zu den Oberschenkeln reicht, spannte einen Brustpanzer aus Kunststoff darüber, befestigte einen bodenlangen weißen Umhang daran und flocht sich Olivenzweige um den Kopf, an denen noch schwarze Früchte hängen. Dann nahm er einen Rundschild und einen Speer zur Hand.

Ben Hur am Startplatz

So steht er nun am Startplatz von Marathon, ein auffälliger Feldherr im bunten Heer der Funktionsfaserträger, lässt sich fotografieren und erzählt: 71 Jahre ist er alt, aus Thessaloniki stammt er, und dies wird der 503. Marathon seines Lebens sein. Nicht nur wegen seines Outfits, auch wegen seines kantigen Gesichts und des strahlenden Lächelns erinnert er an den jungen Charlton Heston als Ben Hur.

Wenn er redet, zittern die Oliven in seinem Kranz. Mit seiner Aufmachung, sagt Kakogeorgiou, wolle er an den antiken Mythos des ersten Laufs von Marathon nach Athen erinnern. Ein Mythos, der nächstes Jahr 2500 Jahre alt wird und mit einem großen Fest begangen werden soll. Der Veranstalter, der griechische Leichtathletikverband Segas, will im Oktober 2010 mindestens 8500 Läufer nach Marathon holen. Ein ehrgeiziges Ziel. Normalerweise liegt die Zahl der Teilnehmer bei gut 4000. So auch in diesem Jahr.

Aus Athen treffen die Busse mit den Startern ein. Die Laufshirts kleben an den Körpern, kaum dass die Sportler ausgestiegen sind. Alles rennt, sucht Deckung unter den wenigen Bäumen und in Rohbauruinen. Die wachsen um den Startplatz herum aus den Wiesen, ganz im Gegensatz zum Gemüse, das Marathon - auf Deutsch Fenchelfeld - seinen Namen gegeben hat.

Der erste Eindruck im gestreckten Galopp: ein Parkplatz, ein Fußballfeld mit Laufbahn, das auch an einem beliebigen anderen Dorfrand dieser Erde liegen könnte, dazu aber pompöse, marmorne Anbauten, eine Halle und eine Tribüne für Ehrengäste. Griechische Landesflaggen hängen schlaff im Wolkenbruch. In einer Schale brennt ein Feuer und erinnert an die Olympischen Spiele von 2004, deren Marathonkurs auch dieses Rennen folgen wird. Aber man muss sich ganz schön anstrengen an diesem grauen Morgen, um etwas vom Mythos zu erkennen, der Aristoteles Kakogeorgiou so am Herzen liegt.

Immerhin stellt man sich diese Szenen ja komplett von der grellen Sommersonne ausgeleuchtet vor: Wie der persische König Dareios mit seiner Armee übers Meer kommt und 490 vor Christus hier an Land geht, um den Stadtstaat Athen zu erledigen. Die Schlacht von Marathon steht bevor, das Marathon-Märchen wird geboren. Bei Herodot ist nachzulesen, dass die Athener einen Laufboten namens Pheidippides mit der Bitte um militärische Unterstützung von Athen nach Sparta schicken. Das sind hin und zurück rund 450 Kilometer, aber es springt nur eine Abfuhr dabei heraus.

Wie gefährlich das Laufen ist!

Fast 600 Jahre nach Herodot peppt Plutarch die Geschichte des heterodromoi, des Tagesläufers, mit patriotischem Pathos auf. Allerdings lässt Plutarch seinen Boten erst nach dem Sieg der Athener in Marathon starten. Er rennt die knapp 40 Kilometer nach Athen, stürmt die steinernen Stufen des Areopag hoch und stirbt nach der atemlosen Verkündung: ,"Nenikekamen! Freut euch, wir haben gesiegt!" Notorische Bedenkenträger berufen sich heute noch auf diese Story: Wie gefährlich das Laufen sei, wo doch schon der erste Marathonike daran zugrunde gegangen sein soll.

Aber egal, was an dieser Geschichte dran ist, für einen Läufer ist der Marathon ab Marathon etwas Besonderes. Etwas, das man einmal im Leben gemacht haben will. Darüber sind sich alle einig, die an diesem Sonntag unter den Bäumen stehen, frösteln und auf den Startschuss warten. Millionen Menschen laufen regelmäßig, für viele gehören Reisen zu Marathons in aller Welt zum üblichen Jahresprogramm. Man kombiniert Sightseeing mit Sport - auch wenn hier nicht viel Antikes zu sehen ist.

Jedes Mal muss er sich ärgern

Schon elf Mal ist Aristoteles Kakogeorgiou von Marathon nach Athen gelaufen. Aber jedes Mal musste er sich ärgern: "Überall hängen Werbeplakate der Bank, die den Marathon sponsert - aber nicht ein Wort erfährt man über seine historischen Hintergründe!" Nun ist Aristoteles Kakogeorgiou sicher ein spezieller Verfechter des Historischen.

Er leitet seit 45 Jahren einen hellenistischen Kulturverein, veranstaltet eigene Marathons, zum Beispiel in der nordgriechischen Stadt Drama, und hat den Göttern des Olymp in der Nähe von Thessaloniki einen Tempel errichtet. Seiner Meinung nach stehen die Götter für Wahrheit und Gerechtigkeit - Tugenden, die in seinen Augen heutzutage zu wenig zählen.

In Marathon findet man hauptsächlich Verweise auf die Leichtathletik-Geschichte. Zum Beispiel am Marktplatz, wo ein Gedenkstein an den ersten organisierten Marathonlauf anlässlich der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit im Jahr 1896 erinnert. Die Idee geht auf den Sprachwissenschaftler Michel Bréal zurück.

Der erfuhr von seinerzeit frisch freigelegten Grabhügeln gefallener Athener in Marathon, erinnerte sich daraufhin an Pheidippides und schlug seinem Freund, dem Olympia-Erfinder Pierre de Coubertin vor, einen Lauf nach antikem Vorbild ins Programm aufzunehmen. Von der Entwicklung der Disziplin erzählt heute ein kleines Museum mit Fotos, Startnummern und Laufschuhen. In einer halben Stunde ist man da durch, aber die Teilnehmer des Marathons haben nicht einmal dazu Gelegenheit. Lautsprecherdurchsagen rufen zum Start.

Es geht auf einer für den Verkehr gesperrten, vierspurigen Schnellstraße nach Athen. Bei Kilometer fünf läuft man eine Schleife um die weiträumig umzäunten Grabhügel. Von da an rhythmisieren nur noch Werkstätten, Outlets und Tankstellen den bis Kilometer 32 treppenartig ansteigenden Kurs.

Lediglich zwei Skulpturen stehen entlang der Strecke und erinnern an den Mythos. Eine befindet sich in Rafina und stellt Pheidippides in Rüstung dar. Fünf Kilometer weiter, in Pikermi, gibt es das Standbild eines nackten Läufers. Dabei ist fraglich, ob ein Bote überhaupt hier, also entlang der Küste, durchgekommen wäre. Wahrscheinlicher ist, dass er den zwar steileren, aber kürzeren direkten Weg über die Berge genommen hätte.

Auf ihn hört ja niemand!

Wer auf jeden Fall hier war, ist Spiridon Louis, der Gewinner des ersten olympischen Marathonlaufs von 1896. Louis, von Beruf Wasserträger, kehrte in Pikermi in einem Wirtshaus ein, trank ein Glas Wein und versicherte, dass er siegen werde. Damals ging der Marathon noch über knapp 40 Kilometer. Die heutigen 42,195 Kilometer wurden erst zu Olympia 1908 in London eingeführt, um die Strecke zum Vergnügen der Royals zu verlängern, damit sie von Schloss Windsor bis vor die königliche Stadionloge reichte. Die neue Distanz setzte sich später überall durch und wurde schließlich im olympischen Regelwerk festgeschrieben.

Für den Traditionalisten Kakogeorgiou sind die 42,195 Kilometer eine neumodische Erfindung, die seiner Meinung nach den Zusatz ,"englischer Marathon" tragen sollte. Seinen Erkenntnissen nach ging der antike Botenlauf über exakt 38,5 Kilometer. Er findet, auch die heutige Strecke von Marathon nach Athen sollte so lang sein - aber auf ihn höre ja niemand von den Offiziellen, obwohl er ihnen immer wieder Briefe schreibe. Aber auch er stoppt an diesem Sonntag nicht schon vier Kilometer vor dem Ziel.

Die letzten zehn Kilometer geht es angenehm leicht bergab ins Stadtzentrum, zumal die Sonne inzwischen herausgekommen ist. Entsprechend schwungvoll rauschen die Läufer zum Finale über die schwarze Tartanbahn des Panathinaikon-Stadions, das für die Spiele von 1896 auf antiken Fundamenten errichtet wurde und den Erschöpften Gänsehaut macht. Als Aristoteles Kakogeorgiou mit Speer und Schild zum Schluss-Sprint ansetzt, schwillt der Jubel der Zuschauer an. Der Kritiker des Laufs wird zum Publikumsliebling, gerade weil er als Einziger an die antiken Ursprünge erinnert - das ist die Ironie der Geschichte.

© SZ vom 19.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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