Kolumne "Familie und andere Turbulenzen":Allein daheim

Familien-Kolumne

Wenn die Kinder selbst Familie haben, wird die Bindung an die eigenen Eltern oft wieder enger. Davor müssen diese damit leben, im Leben ihrer Kinder plötzlich eine sehr kleine Rolle zu spielen.

(Foto: Stephanie Wunderlich)

Sind die Kinder groß, ziehen sie aus und die Eltern haben endlich mehr Zeit und Raum für sich. Eigentlich eine gute Sache. Wenn die Wohnung nicht plötzlich so leer und still wäre.

Von Katja Schnitzler

Die Mutter

"Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln. Wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel." An diese Weisheit hatte sich die Mutter während all der Jahre gehalten. Sie hatte aber nicht gewartet, bis ihre Tochter tatsächlich groß war, sondern ihr schon vorher Flügel verliehen und sie so hoch steigen lassen, wie es eben ging. Zum Beispiel allein auf den Baum, obwohl die Mutter beim Zuschauen die Luft anhielt, ohne es zu merken. Auch Übernachtungen bei Freunden oder Fahrten ins Ferienlager, später dann lange Disco-Abende - das alles gehörte für die Mutter zu den nötigen Flugversuchen ihrer Tochter. Sie wollte unterstützen statt stutzen.

Trotzdem war es nun, als sei ihr Junges aus dem Nest gefallen. Dabei war die Tochter nur flügge geworden. So war der Lauf der Natur, so sollte es sein. Doch die Mutter fühlte sich, als wäre sie beim Zug in den Süden zurückgelassen worden.

Die Tochter

"Ich bin so stolz auf dich", hatte die Mutter gesagt und die Tochter fest umarmt. Die Tochter drückte zurück, dann wollte sie sich nach ihrer Reisetasche bücken. Die Welt wartete, und zwar auf sie.

Doch die Mutter ließ nicht los, umarmte sie fester. "Und ich werde dich so vermissen", flüsterte sie. Die Tochter sah sie irritiert an: Wollte ihre Mutter jetzt etwa weinen? Sie hatte doch sonst keinen Hang zur Dramatik - und sich gemeinsam mit ihr über das Auslandssemester in Italien gefreut. Schließlich war die Tochter ja nicht aus der Welt, das hatte die Mutter selbst gesagt. Und nun diese zittrige Stimme? Die feuchten Augen?

Ein Freund wartete darauf, die Tochter zum Bahnhof zu fahren. "Besser, als wenn du mich fährst, wir wollen doch keine rührselige Szene am Gleis", hatte die Tochter gestern noch gescherzt. Sie raffte hastig ihre Tasche an sich. "Ich ruf an, wenn ich da bin", rief sie beim Einsteigen, winkte noch mal kurz. Als sie um die Ecke fuhren, war sie in Gedanken bereits im Zug nach Rom.

Die Mutter

Als das Auto um die Ecke gefahren war, winkte sie immer noch.

Die Tochter

Sie hatte zu Hause angerufen, wie versprochen. Zwar nicht gleich, nachdem sie in Rom angekommen war. Aber nachdem sie ihr WG-Zimmer bezogen hatte. Und mit den neuen Mitbewohnern angestoßen hatte, die dann noch spontan für sie kochten. Und ihr die Nachbarn vorstellten - was sich zu einer spontanen Willkommensfeier entwickelte.

Die Mutter

Es war so still in der Wohnung, und das Telefon klingelte einfach nicht. Dabei hatte sie sich früher oft Ruhe gewünscht, wenn der laute Alltag mit der Jugendlichen ihr auf die Nerven ging. Doch nun war die Stille schwer statt leicht, erdrückte sie beinahe. Sechs Jahre lang hatte die Mutter ihre Tochter allein durch die Pubertät begleitet. Dabei war es nicht so, dass sie ihrer Ehe hinterhergetrauert hätte, von wegen: Die Mutter ging ins Kino, ins Theater und mit Freundinnen etwas trinken, auch mit Freunden. Wenn sie dann nach Hause kam und die Wohnung leer war, hatte sie die Ruhe genossen. Sie war ja nur von kurzer Dauer.

Manchmal hatte sie den Auszug der Tochter sogar herbeigesehnt, wenn diese um vier Uhr morgens mit ihren Freunden in ihrem Zimmer feierte. Doch nun war die Wohnung nicht nur leer, sondern leblos. Das Radio in der Küche und der Fernseher im Wohnzimmer täuschten darüber nicht hinweg.

Die Tochter

Fast hätte sie den Anruf bei ihrer Mutter wieder vergessen. Es war einfach zu viel los. Dabei hatte sie sich eigentlich vorgenommen, sich öfter zu melden. Die Mutter klang so komisch. Aber sie sagte, es sei nichts. Sie solle ihre Zeit in Italien genießen. Und das tat sie.

Die Mutter

Die Eintönigkeit an den Abenden wurde nur selten unterbrochen von Nachrichten aus dem Süden, auf die die Mutter wartete. Obwohl sie sich ermahnte, das nicht zu tun: Das Kind, das keines mehr war, durfte schließlich allein fliegen. Manchmal ging die Mutter aus, doch daheim war niemand, der ihre Heimkehr bemerkte. Niemandem würde auffallen, wenn sie gar nicht zurückkam, klagte die Mutter in einer besonders schwarzen Stunde.

"So geht das nicht weiter", sagte ihre Freundin. Die Mutter könne jetzt nicht monatelang auf die Rückkehr einer Tochter warten, die wahrscheinlich sowieso bald endgültig ausziehen werde. Überhaupt, wem trauere sie eigentlich hinterher: "Dem lebhaften Alltag mit Jugendlichen im Haus? Ihrer eigenen Jugend? Oder dem Gefühl, gebraucht zu werden?"

Die Freundin hatte recht.

Die Tochter

Die Monate waren so schnell vergangen. Sie hatte das Gefühl, gerade erst in Rom angekommen zu sein. Nun stand sie wieder daheim am Bahnhof, und alles war enger geworden: die vertrauten Straßen, das Viertel, ihr altes Zimmer - obwohl das größer war als ihr WG-Zimmer in Rom. Auch das Wiedersehen mit ihrer Mutter war schön, aber anders. Mehr auf Augenhöhe.

Die Mutter

Die Tochter wollte sich duschen nach der langen Fahrt, und dann alles erzählen von Rom und den Römern. Fast alles, vermutete die Mutter. Sie freute sich schon auf die Zweisamkeit. Die Tochter brauchte lange im Bad, wie früher. Dann klingelte das Telefon, ein Freund der Tochter.

Die Tochter

Wie schön, dass sich die alte Clique gleich meldete. Ein Willkommenstreffen in der Stammkneipe, natürlich war sie dafür nicht zu müde! Zuvor trank sie noch schnell einen Kaffee mit der Mutter und erzählte ihr eilig ein paar Anekdoten, die ihre Mutter nicht so erheiterten, wie sie gedacht hätte. Überhaupt wirkte die Mutter nicht ganz bei der Sache.

Ob es ein Problem für sie sei, dass sie noch mit ihren Freunden losziehe, fragte die Tochter. "Nein, nein", hatte die Mutter gesagt, "ein Problem ist das nicht." Nachdenklich nahm die Mutter einen Schluck Kaffee. Sie könnten sich ja am nächsten Tag in Ruhe unterhalten, meinte die Tochter.

Die Mutter

Die Tochter schlief bis mittags, aber die Mutter war darauf vorbereitet und hatte sich zum Frühstück mit ihrer Freundin verabredet. Später, beim familiären Mittagessen, kam kaum ein Gespräch zustande. "Die Willkommensfeier muss ja rauschend gewesen sein", dachte die Mutter. Nach dem Abräumen wollte die Tochter ihre noch prall gefüllte Reisetasche auspacken. Die Mutter sah auf die Uhr. In zwei Stunden würde eine Lesung beginnen, eine halbe Stunde zuvor wären die besten Plätze weg. Eigentlich hatte sich die Mutter auf die Veranstaltung gefreut.

Die Tochter

Das Auspacken zog sich hin. Irgendwie passten ihre neuen Sachen aus Rom nicht mehr in ihr altes Zimmer, was nicht am Platz lag.

Die Mutter

Sie wolle ja nicht drängeln, sagte die Mutter, aber sie müsse bald weg. Ob das ein Problem für sie sei, fragte die Mutter.

Die Tochter

"Nein, also na ja", antwortete die Tochter etwas überrascht. Aber sie wolle doch noch von Rom erzählen ...

Die Mutter

Sie betrachtete ihre Tochter im Durcheinander ihres Zimmers. Dann lächelte sie. "Machen wir es uns nach der Lesung gemütlich. Oder morgen, da habe ich Zeit, bevor ich nachmittags zum Yoga-Workshop muss."

Die Tochter

Yoga? Warum denn Yoga?

Die Mutter

Ob sie davon noch nicht erzählt habe? Das könne sie ja morgen nachholen - nun müsse sie aber los. Die Welt wartete, und zwar auf sie.

Wie veränderte sich Ihr Leben nach dem Auszug der Kinder? Verraten Sie uns Ihre Erfahrungen und Tipps in den Kommentaren unter der Kolumne.

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