Ein Jahr nach Duisburg:"Es sterben mehr Menschen durch Kugelschreiber"

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Seit vor einem Jahr bei der Loveparade in Duisburg 21 Menschen ums Leben kamen, schwebt über jeder Massenveranstaltung die Frage: Geht diesmal alles gut? Doch die meisten Ängste sind irrational, sagt Angstforscher Borwin Bandelow - und dass wir trotzdem Dinge tun, die viel gefährlicher sind, als wir glauben wollen. Ein Gespräch über das Wesen der Angst.

Violetta Simon

Borwin Bandelow, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Göttingen, erforscht seit 25 Jahren die unterschiedlichsten Formen menschlicher Angst. Der 59-Jährige ist g eschäftsführender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet eine Spezialabteilung für Patienten mit Angststörungen. Bandelow ist Präsident der Gesellschaft für Angstforschung und ein international anerkannter Experte für Angsterkrankungen.

Vor einem Jahr kam es in dieser Unterführung in Duisburg zu einer Massenpanik. Tausende drängten sich auf dem Weg zur Loveparade durch den Tunnel, in dem 21 Menschen starben. Noch heute leiden Überlebende, die mitansehen mussten, wie jemand verletzt oder getötet wurde, an den Folgen. (Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Mit welchen Ängsten hatten die Menschen zu kämpfen, die vor einem Jahr bei der Loveparade-Katastrophe in Duisburg dabei waren?

Borwin Bandelow: Angst im Gedränge ist eine Urangst - das ist auch der Grund, warum manchmal bei Pilgerfahrten oder im Fußballstadion eine Massenpanik entsteht, obwohl bis dahin keine unmittelbare Gefahr bestand. Es gibt viele Menschen, die schon in einem leichten Gedränge - etwa in einer Fußgängerzone oder gar in einem Fahrstuhl - Angstanfälle bekommen.

sueddeutsche.de: Welche psychischen Konsequenzen hat das Erlebte für die Beteiligten - leiden sie vermehrt an Angststörungen?

Bandelow: Die meisten Leute, die dabei waren, haben überhaupt nichts mitbekommen. Nur Menschen, die - Gott sei Dank nur in seltenen Fällen - unmittelbar den Tod oder die Verletzung eines Menschen miterlebt haben, können eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln.

sueddeutsche.de: Finden Sie es irrational, wenn junge Menschen vor dem nächsten Großevent lähmende Angst vor einer erneuten Massenpanik empfinden oder Besucher einer Massenveranstaltung einen Anschlag befürchten?

Bandelow: So ganz irreal ist die Gefahr sicher nicht. Aber die Chance, dass ausgerechnet bei einer dieser zahlreichen Veranstaltungen etwas passiert, ist doch extrem gering.

sueddeutsche.de: Welchen Grund hat es, wenn man dennoch Angst empfindet?

Bandelow: Gefahren, die erstens neu und zweitens unbeherrschbar erscheinen, werden oft statistisch falsch eingeordnet. Selbst wenn in einem Jahr 50 Leute durch Terroranschläge zu Schaden gekommen sind, starben in derselben Zeit 300 Menschen durch das Verschlucken von Kugelschreibern.

sueddeutsche.de: Sind alle Menschen anfällig für solche irrationalen Sorgen?

Bandelow: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Strukturiertheit und geordnetem Denken auf der einen Seite und zwischen Unstrukturiertheit und magisch-mystischem, unlogischem Denken auf der anderen Seite. Manchen Leuten kann man erzählen, dass der Mond achteckig ist. Das sind die gleichen, die nicht aufs Oktoberfest gehen, weil sie davon überzeugt sind, dass dort eine Bombe explodieren wird - aber Zigaretten rauchen.

sueddeutsche.de: Dann ist der Hang zu solchen Vermutungen also Typsache - und somit angeboren?

Bandelow: Richtig. Auch diese Menschen muss es geben. Wenn nur zwanghafte, ordentliche, strukturierte Menschen existieren würden, dann wäre die Welt sicher ziemlich unlustig.

sueddeutsche.de: Machen sich solche Menschen auch mehr Hoffnungen?

Bandelow: Aber ja! Oft auch falsche. Das sind die Leute, die Lotto spielen. Sie geben einen Schein ab, weil sie überzeugt sind, zu gewinnen, obwohl die Chance eins zu 14 Millionen steht. Auf der anderen Seite setzen sie sich nicht in ein Flugzeug, obwohl die Wahrscheinlichkeit, abzustürzen, bei eins zu 8,5 Millionen liegt.

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sueddeutsche.de: Im September jährt sich zum zehnten Mal der Anschlag auf das World Trade Center. Haben Sie seitdem einen Anstieg von Angststörungen registriert?

"Angst im Gedränge ist eine Urangst", erklärt Angstforscher Professor Borwin Bandelow. Deshalb entsteht eine Massenpanik oft auch dann, wenn noch keine unmittelbare Gefahr besteht. (Foto: oh)

Bandelow: Die Zahl psychiatrischer Erkrankungen ist aufgrund solcher Katastrophen nie angestiegen, soweit wir das wissenschaftlich überprüfen können. Nur Menschen mit einer generalisierten Angststörung fürchten sich vor solchen "realen" Gefahren. Während man bei anderen Angststörungen vor ungefährlichen Dingen Angst hat, wie etwa vor Spinnen oder Fahrstühlen, empfindet man bei der generalisierten Angststörung Angst vor Ereignissen, die zwar tatsächlich passieren - etwa Autofahren -, die jedoch statistisch völlig überhöht eingeschätzt werden.

sueddeutsche.de: Aber ein Anschlag von solchem Ausmaß muss sich doch auf eine Gesellschaft und ihre Individuen auswirken.

Bandelow: Viele Menschen gehen nun generell nicht mehr so leicht und locker durchs Leben. Ich fliege oft, und jedes Mal, wenn ich in der Handgepäckkontrolle stehe, werde ich in gewisser Weise an den Terroranschlag von 2001 erinnert. Wenn da ein herrenloser Koffer im Flughafen steht, sind sicher viele besorgt - aber sie sind deswegen nicht aufgeregt.

sueddeutsche.de: Wo liegt der Unterschied?

Bandelow: Es gibt in unserem Hirn ein primitives Angstsystem, das nur auf Gefahren reagiert, die wir sehen, fühlen, hören oder riechen können. Dieses System kann uns in Panik versetzen, mit Herzrasen, Luftnot und Enge in der Brust. Lesen wir hingegen Berichte über eine bevorstehende Umweltkatastrophe, machen wir uns lediglich Sorgen, aber wir werden nicht panisch. Denn für Gefahren, die wir vorausschauend beurteilen müssen, wie medizinische Langzeitschäden durch Strahlung, wird unser intelligentes Angstsystem beansprucht, das weiß, was Becquerel oder Millisievert ist. Dieses System kann keine Panik auslösen, nur Sorgen, was körperlich nicht so heftig empfunden wird. So hatten die Japaner vor allem vor der Tsunamiwelle und den Erdstößen Panik, während sie hinsichtlich der Strahlung "nur" Sorge empfinden.

sueddeutsche.de: Dennoch kritisierte Ex-Innenminister Gerhart Baum 2007 in Bezug auf eine geplante Online-Durchsuchung seinen Nachfolger Wolfgang Schäuble mit den Worten: "Die Terror-Angst vergiftet unser Denken." War das völlig aus der Luft gegriffen?

Bandelow: Da habe ich die Beobachtung gemacht, dass eine Art "Vier-Wochen-Frist" existiert. Wenn beispielsweise eine Kofferbombe gefunden wird, entsteht zunächst eine kollektive Angst vor einer Gefahr, die bisher nicht bekannt war. Den Menschen wird klar: Während an Bahnhöfen in Spanien das Gepäck zum Teil wie vor einer Flugreise kontrolliert wird, ist es in Deutschland sehr leicht, einen Koffer in die Bahn zu schmuggeln und einen ICE in die Luft zu jagen. Aber diese Sorge hält vier Wochen an - und dann läuft wieder alles normal.

sueddeutsche.de: Welche Rolle spielen dabei die Medien, schüren sie die Angst?

Bandelow: Zunächst schon, doch nach einigen Wochen ist das Thema durch. Selbst wenn in Fukushima die Gefahr einer radioaktiven Strahlung weiterhin besteht, wird darüber nicht mehr berichtet - und wenn, dann nur in Briefmarkengröße. Die Leser stumpfen irgendwann ab.

sueddeutsche.de: Unsere Wahrnehmung für Gefahren hat sich verändert. Könnte sich eine neue vererbbare "Ur-Angst" vor Massenaufläufen oder vor Terroranschlägen entwickeln? Sie könnte doch unser Überleben sichern.

Bandelow: Wenn, dann würde das vermutlich 10.000, vielleicht sogar 100.000 Jahre dauern. Sir Walter Raleigh führte im 17. Jahrhundert den Tabak ein. Und obwohl Rauchen als Todesursache Nummer eins gilt, haben Menschen in diesen Jahrhunderten keine Zigarettenphobie entwickelt. Darwin hat beobachtet, dass er Angst bekommt, wenn er eine Schlange hinter Glas sieht. Ich hab mich in Kanada auf einen hohen Turm gestellt, bei dem man durch ein Glasscheibe mehrere hundert Meter nach unten schauen kann - dabei bekam ich eine Angstattacke. Was lernen wir daraus? Unser primitives Angstsystem weiß nicht, was Glas ist. Glas gibt es erst seit 5000 Jahren, Glasscheiben seit 2000 Jahren. Diese Angst muss also älter sein.

sueddeutsche.de: Dann fürchten wir uns also meistens vor Dingen, die uns gar nicht mehr gefährlich werden können?

Bandelow: Nein, wir haben Angst vor Dingen, die vor 100.000 Jahren gefährlich waren und es heute nicht mehr sind, wie heimische Spinnen - oder heute noch sind, wie Gewitter. Es gibt übrigens keine Phobien vor Steckdosen. Obwohl jeder von uns als Kind mal eine gewischt gekriegt hat, leidet niemand an einer Steckdosenphobie. Auch Ängste vor gesättigten Fettsäuren - eine der häufigsten Todesursachen unserer Zivilisation - sind nicht bekannt.

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