Freundebücher:Die ausgedruckten Timelines der Kinder

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Alle meine Freunde (Foto: Sarah Brück)

Hobby, Leibspeise, liebstes Schimpfwort: In Freundebüchern sammeln Kinder Daten, die sie nicht interessieren. Warum ist das Buch so wichtig?

Von Silke Stuck

Liebe Mutter eines mir unbekannten Karls aus dem Kindergarten meines Jüngsten. Wegen deiner WhatsApp: Ja, stimmt, sorry, wir haben das Freundebuch noch. Ich habe es gerade untereinem Zeugstapel gefunden, wir machen uns gleich an die Arbeit.

"Was magst du am allerwenigsten?" -"Mädchen.""Was machst du am allerliebsten?" - "Mädchen ärgern.""Wenn du Superkräfte hättest, was würdest du mit denen anstellen?" - "Mädchen abschaffen.

"Freundebücher ausfüllen mit noch nicht alphabetisierten Kindern ist wie Ghostwriting für Fortgeschrittene: Man schreibt stellvertretend für ein Kind, das nicht schreiben kann, Sachen über das Kind, das sich bislang selbst eher wenig Gedanken gemacht hat, über seine Freizeitgestaltung, sein liebstes Schimpfwort, und das, was es anderen Kindern auf deren Lebensweg mitgeben möchte. Aber auf jeden Fall das Kind selbst krakelig unterschreiben lassen! Das zeigt nämlich, dass es das schon kann.

Ich gebe zu, dass ich mir die Bücher ganz gern anschaue. Aber ich bin ja auch eine Facebook-Voyeurin: Ich mag diese Mischung aus Neugier, Lästerlust und Fremdschämen, die aufkommt, wenn man in der Außendarstellung anderer Leute stöbert. Freundebücher zu lesen ist ein bisschen so, als würde man durch eine ausgedruckte Timeline der Kinder blättern. Schon der Buchumschlag verrät nicht nur etwas über das Kind, sondern auch darüber, wie die Eltern ihr Kind sehen: Als harmlosen Käpt'n-Sharky-Typen oder als freches "Mein absolut verrücktes Krickel-Krakel-Kicherkacke-Freundebuch"- Gör?

Mein Sohn teilt diese Faszination allerdings nicht wirklich. Wenn ich ihm die Rubriken eines Freundebuchs vorlese, um seine Antworten hineinzuschreiben, schaut er ins Leere. Unsere Adresse? Kennt er noch nicht. Handynummer? Hat er noch nicht. "Daran erkennt man mich?" Sohn schaut. Unsicher fragt er zurück: "Am Gesicht?" Er verabschiedet sich in Richtung Kinderzimmer. "Halt, nicht abhauen, wir müssen noch ein Foto suchen!" - "Kannst du machen."

Maria von Salisch, Professorin für Entwicklungspsychologie, sagt, bei den Alben gehe es weniger darum, etwas über die Freunde zu erfahren als um die Suche nach gemeinsamen Vorlieben und Abneigungen. "Letztlich werden hier Normen in der Peer-Gruppe etabliert." Das Buch diene außerdem als "Kontaktanbahnungsvorbereitung", die auch von den Eltern genutzt wird: Guck mal, der Jasper spielt auch gern Fußball. Und schau, die Lina geht auch gern schwimmen. Alle mögen Lego, die Lochis oder Stickeralben.

Wenn Erwachsene sich darstellen,setzen sie gern auf maximale Indi­vidualität: Skifahren in Kanada, Gumpenspringen auf Korsika, Delfinschwimmen in Brasilien. Zack! Und jetzt kommst du. Unsere Kinder verschwimmen lieber alle miteinanderin der Konformität, auffallen unerwünscht. Passt uns auch ganz gut. Einzig das eingeklebte Foto gibt dem Ganzen einen eigenen Touch, sofern es nicht vergessen wird oder leider gerade keins zur Hand war.

Kinder interessieren sich also gar nicht so sehr für den Inhalt ihrer Freunde­bücher. Klar, welches Kind denkt schon über seine Freunde nach? Aber sie lieben die Bücher. Möglicherweise befriedigt das Freundebuch auch einfach denselben kindlich-kapitalistischen Sammeldrang wie Panini-Alben. Maria von Salisch sagt, um sich später an Kinderfreunde zu erinnern, brauche man keine einzige konkrete Information über Hobbys und Lieblingsessen. Ein Foto, Name und Telefonnummer reichten aus.

Insofern hier ein kleiner Aufruf an alle avantgardistisch veranlagten Familien: Wie wäre es mit einem Poesie­alben-Revival?

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