"Wir sehen uns dort oben" von Pierre Lemaitre:Lachen mit fehlendem Unterkiefer

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Für den Roman "Au revoir là-haut" erhielt der 1951 in Paris geborene Pierre Lemaitre den wichtigsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt. (Foto: AFP)

Pierre Lemaitre erzählt die Geschichte einer Soldatenfreundschaft vor nachkolorierter Weltkriegskulisse. Zwar sind die Protagonisten durchschaubar, doch werden sie wunderbar als arme Schlucker mit dubiosen Machenschaften dargestellt.

Von Joseph Hanimann

Verstümmelte Leiber und einfühlsam beschriebene Momente zwischen Verzweiflung und Langeweile sind die dominierenden Elemente der Literatur über den Ersten Weltkrieg. Das Spinnen von Erzählfäden, die Einzelschicksale und längere Zeitspannen umfassen, ist dagegen seltsamerweise eher selten, als hätten die Granaten auch diese Fäden zerrissen.

In seinem Roman "Wir sehen uns dort oben" hat Pierre Lemaitre dieses versucht. Der 1951 in Paris geborene Autor, der vor allem mit Kriminalromanen bekannt wurde, hat für dieses Buch 2013 den Goncourt-Preis erhalten. Das war verdient, achtet man auf die spannend erzählte Geschichte mit den packenden Situationsschilderungen, deren fünfhundert Seiten man am liebsten in einem Zug läse.

Die Deflagration einer Granate, dieses Erkennungszeichen jener ersten Weltkriegserfahrung, kommt auch in diesem Buch vor. Aber sie kommt gleich zu Beginn, dann ist Schluss, auch mit dem Krieg. Wir befinden uns im November 1918. Die Granate hat gerade noch Zeit gehabt, ein paar Nachkriegsschicksale lebenslänglich aneinander zu ketten.

Lieber tot als entstellt

Der Frontsoldat Albert, der das Warten auf das Kriegsende schon lange aufgegeben hat, wird verschüttet und röchelt unter der Erde seinem Ende entgegen im schmerzlich absurden Halbbewusstsein, der vielleicht letzte Gefallene dieses Krieges zu sein. Seinen ebenfalls verletzten Kameraden Édouard hat es ins selbe Kraterloch verschlagen. Mit letzter Kraft beginnt dieser aber, als er merkt, dass da unter der Erde etwas noch zuckt, den Verschütteten auszubuddeln.

Als Lohn dafür sprengt ihm eine zweite Granate das halbe Gesicht weg. Die beiden Männer kommen von da an voneinander nicht mehr los. Der eine will mit seinem unkenntlich gewordenen Gesicht auf keinen Fall zu den Seinen nach Hause zurückkehren, sondern lieber sterben. Der andere denkt sich eine andere Lösung aus.

Wie Albert es anstellt, den im Lazarett vor sich hinsiechenden Krüppel durch Identitätstausch mit einem Gefallenen für tot melden zu lassen, ist schon spannend genug. Was so ein Akt alles an Konsequenzen nach sich zieht, konnte Albert sich gar nicht vorstellen. Dazu kommt, dass in dieser Sache auch noch ein dritter mit im Bunde ist, Leutnant d'Aulnay-Pradelle, ihr ehemaliger Kommandeur an der Front.

Das ist ein fieser Karrierist, dem alles recht ist, um den Krieg zu seiner persönlichen Erfolgsstory zu machen. Er hat den Identitätsbetrug der beiden Männer durchschaut und nutzt dieses Wissen, um Albert, der seinerseits die regelwidrigen Methoden des Vorgesetzten erkannt hatte, am Ausplaudern zu hindern.

Akteure des Ersten Weltkriegs werden erschreckend greifbar

Die beiden Soldaten, die im Krieg fast alles verloren haben, werden gegen ihren Willen Komplizen eines widerlichen Kerls, der Gewinn daraus zieht. Denn natürlich steht Pradelle auch in den Nachkriegsjahren, die der Roman hauptsächlich erzählt, auf der richtigen Seite. Er macht das große Geschäft mit der Umbettung der Toten durch die Armee auf grandios angelegte Soldatenfriedhöfe, während Albert und Édouard durch Schwarzhandel mit Gefallenendenkmälern sich über die Runden bringen.

Die Akteure des Ersten Weltkriegs, die in so vielen Romanen nur das Gesicht unglückseliger Opfer oder ziemlich ferner Verantwortungsträger haben, begegnen uns da unerhört plastisch. Das ist die Stärke dieses Romans. Man zuckt mit Albert jedes Mal zusammen, wenn Pradelle mit seinem eiskalten Blick an allen Ecken und Enden aufkreuzt. Man fiebert mit den zwei Denkmaldealern, wenn ihre schrägen Geschäfte auf der Kippe stehen. Und man staunt immer wieder, wie ein Mann, der keinen Unterkiefer mehr hat, lachen kann.

Fesselnde Geschichte trotzt historischer Ungenauigkeiten

Das vertreibt allerdings die Frage nicht, die sich mit fortschreitender Lektüre immer eindringlicher stellt. Warum liest man diesen Roman? Um gut unterhalten zu werden? Das ist fraglos der Fall. Um zu erfahren, wie die Kehrseite jenes Geredes um Heldentum und Ehre aussah? Das wusste man irgendwie schon. Um die Realität jenes Zeitenwechsels zwischen Krieg und Nicht-mehr-Krieg kennenzulernen? Dafür nimmt sich der Autor bei den historischen Tatsachen etwas zu viele Freiheiten heraus, wenn er etwa, wie er in der Nachbemerkung zugibt, die Geschichte mit dem Gefallenendenkmalhandel frei erfunden hat.

Und für eine literarische Verarbeitung eines historischen Stoffs sind die Figurenprofile etwas flach - in den unglaublichsten Situationen zwar wunderbar anschaulich gezeichnet, aber in ihrer Rolle als arme Schlucker mit nicht ganz sauberen Händen beziehungsweise elegante Halunken mit makellosen Hemden etwas zu leicht durchschaubar. Der Roman erzählt einfach eine fesselnde Geschichte vor einer gekonnt nachkolorierten Weltkriegskulisse und ist von Antje Peter mit Pfiff, historischer Einfühlung und dem richtigen Sinn für Beschleunigung und Verzögerung vorzüglich übersetzt.

Pierre Lemaitre: Wir sehen uns dort oben. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2014. 521 Seiten, 22,95 Euro. E-Book: 17,99 Euro.

© SZ vom 05.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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