U-Bahn-Gewalt im Film:Showdown im Nahverkehr

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Urszenen der U-Bahn-Gewalt: Die Schuld des untätigen Zuschauers und die Großstadt als wahrer Täter - im Kino ist davon schon lange die Rede.

Jan Füchtjohann

Dr. Temple Grandin kann denken wie eine Kuh. Diese Inselbegabung nutzt die amerikanische Autistin, um Schlachthöfe zu beraten. Dank ihrer seltenen Wahrnehmungsgabe sieht sie sofort, was den Betrieb aufhält. Nervös und aggressiv macht die Kühe nur selten die Bolzenschussmaschine am Ende des Gangs - bedrohlicher wirkt der Gang selbst: die Zumutung, grundlos in einen stickigen, düsteren und engen Schlund getrieben zu werden.

Nächster Halt: Solln oder Arabellapark? Nein, nur eine Szene aus "The Incident" (1967) von Larry Peerce, mit Tony Musante und Beau Bridges. (Foto: Foto: SZ)

Öffentliche Nahverkehrssysteme berät Dr. Grandin nicht. Die gewaltsame Unterdrückung aller Fluchtimpulse, die hier als tägliche Zivilisationsleistung erbracht werden muss, würde sie überfordern. Doch sogar schmerzbefreite Großstädter ahnen gelegentlich noch, wie stark das Pendeln ihren Instinkten zuwider ist. Wenn die U-Bahn ohne Grund im Tunnel stoppt, während man eingezwängt zwischen Mänteln steht, die nach feuchtem Hund riechen; wenn man plötzlich Knie an Knie mit Typen sitzt, zu denen man lieber drei Meter Abstand halten würde - dann ist das Unbehagen im Nahverkehr noch zu spüren. Fast täglich besteht der Stadtmensch diesen Härtetest, aber von Zeit zu Zeit entsteht doch Gewalt. Die "U-Bahn-Attacke", der "S-Bahn-Mord" - man würde diese Vorfälle kaum so bezeichnen, bestünde nicht ein Zusammenhang zwischen dem Verbrechen und der Beschaffenheit des Tatorts.

Was den freiwilligen Abstieg ins Dunkle und Zusammengepferchte angeht, so gibt es eine vergleichbare Erfahrung: das Kino. Auch hier sitzt man eng neben Fremden, die man nicht immer riechen möchte, und auch hier unternimmt man eine Reise, die traumatisch enden kann. Diese Verwandtschaft führt zu einem natürlichen Interesse des Kinos an den düstren Energien, die in Subways und Vorortzügen am Werk sind.

Die dabei entstandenen Filme sind oft derart eindringlich, dass man sich fragt, ob sie nur archetypische Ängste verfilmen - oder neue Ängste schaffen. Jedenfalls wirken der Mord in Solln und der versuchte Mord am Arabellapark, als habe man diese Szenen längst im Kino gesehen. So sehr ist unsere Vorstellung von Filmbildern durchsetzt, dass am Ende die Verbrechen selbst wie Remakes erscheinen - mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Opfer real, und die Remakes darum mehr als geschmacklos sind.

Schiefe Fressen und Lederjacken

Aber gehen wir zurück zu einer der Urszenen: zu "The Incident" von Larry Peerce aus dem Jahr 1967. Mitten in der Nacht begegnen sich hier in der New Yorker U-Bahn verschiedene strangers on a train, jeder mühselig und beladen mit eigenem Gepäck. Der Schwarze hat seinen Rassenhass dabei, der aus der Mittelschicht seine Angst, der Alte seinen Zorn über die Jungen, der Trinker seine Erinnerung an die verlorene Familie. Außer mühsam gewahrter Gleichgültigkeit gibt es keine Verbindung, keinen Zusammenhalt zwischen den Passagieren - und genau in diese Lücke hält das Böse Einzug.

Zwei junge Männer terrorisieren mit brutalem, psychopathischem Geschick den ganzen Waggon, Passagier für Passagier. Nur der brave Soldat aus Oklahoma, gespielt von Beau Bridges, hält es schließlich nicht mehr aus, schreitet ein - und bezahlt dafür mit dem Leben. Eine moralische Geschichte, mit der Großstadt als wahrem Täter. Hier wird zum ersten Mal klar, was die Stadt und ihre Bahnen aus den Menschen macht: feige, abgestumpfte und vereinzelte - Pendler.

Lesen Sie auf Seite 2 mehr von den düsteren Welten im Untergrund.

Eine Zeit der Menschlichkeit und Nächstenliebe, bestimmt von Bürgersinn und Zivilcourage - diese nostalgisch beschworene Idylle hat es dem Kino zufolge in der U-Bahn also nie gegeben. Schon gar nicht für Woody Allen und Sylvester Stallone in "Bananas" (1971). Stallone, ganz jung und ganz unbekannt, ist einer von zwei Schlägern mit schiefer Fresse und Lederjacke, die in der Subway gebrechliche Passagiere überfallen.

Der kleine Woody verkriecht sich, doch kurz bevor die Bahn die Station verlässt, schiebt er die Übeltäter blitzschnell aus der Tür. Nur leider fährt der Wagen nicht ab, die Tür geht wieder auf - und der Möchtegern-Retter hat ein handfestes Problem (die Episode ist vollständig auf YouTube zu sehen). Die Standardsituation der peinigenden Selbstbefragung - wie würde ich reagieren, wenn das neben mir passiert? - ist hier bereits ist zum Klischee geronnen, zum Witz.

So greift schnell völlige Gesetzlosigkeit um sich. In Walter Hills "The Warriors" von 1979 ist die New Yorker Subway zum Gang-Territorium geworden - die U-Bahn erscheint als bevorzugtes Verkehrsmittel für Jugendbanden auf dem Weg zur Verbrecher-Vollversammlung. Die Motorisierung des Ghettos hat erst teilweise stattgefunden, gegen verfeindete Clans wird bevorzugt beim Aus- und Umsteigen gekämpft.

Die dabei getragenen Kostüme wirken wie der tribalistische Traum eines schwulen Ausstatters, der endlich einmal jede Realität ignorieren durfte: Rollschuhpunks in Ringelpullovern? Schwarze Indianer in roten Lederwesten? Ronald Reagan soll seinerzeit schwer beeindruckt gewesen sein, doch schon fünf Jahre später war es mit den Niedlichkeiten vorbei, als der "Subway Vigilante" Bernhard Goetz tatsächlich auf vier junge schwarze U-Bahn-Gangster schoss und damit einen der meistdiskutierten Prozesse der achtziger Jahre auslöste.

Doch auch die Folklore wurde im Kino schnell radikalisiert. Luc Besson schildert 1985 unverhohlen ein fremdes Land - eine düstere Welt nicht jenseits der Zivilisation, sondern unter ihr. In "Subway" sind Isabelle Adjani und Christopher Lambert zwei Verlorene, die lieber frei im Untergrund als unfrei am Licht leben. So wird die U-Bahn zur U-Topie, zum perfekten Un-Ort: "How can anyone live in a dump like this? Huh? Never any sun. I mean it's not even nowhere here." Doch wer - wie alle, die für den Film ins Kino gehen - den Gang ins Dunkle wagt, begegnet den edlen Wilden der Katakomben, hört ihre Musik und sieht ihre Tänze. Dabei sollen wir uns, so viel ist klar, von moralisch verkommenen Pendlern endlich in Fans verwandeln.

Die härtesten Aufzeichnungen aus dem Kellerloch stammen schließlich von Christopher Smith. In "Creep" (2004) weiß Franka Potente, die Heldin aus dem provinziellen Deutschland, sofort Bescheid: "I'm telling you, something is not right down here!" Im Abgrund ist der Müll, der Dreck und der Auswurf der Stadt. Und wie alles Verdrängte kehrt auch das zurück - als Trauma. Doch so sehr der Film sich auch bemüht, die Herkunft des Traumas zu erklären, im Grunde ist es ganz einfach: Zum verwachsenen, kannibalischen "Creep" wird einfach jeder, der zu lange in der U-Bahn lebt. Schon am Ende ihrer ersten Nacht in den Schächten sieht Potente aus wie eine Obdachlose. Das Monster aber hat Jahre hier verbracht - darum ist es noch zäher, blasser und gleichgültiger gegen die Leiden anderer als jeder Mitfahrer auf dem Weg zur Arbeit.

Mit der Forderung nach Helden, die dem zersetzenden Einfluss der Stadt und ihrer Bahnen entgegentreten, ist das Kino eher vorsichtig. Gut zeigt sich das, wenn Polizisten mit an Bord sind. In Joseph Sargents "Stoppt die Todesfahrt der U-Bahn 1-2-3" von 1974 ist ein langhaariger Undercover-Cop unter den Fahrgästen, als das Versprechen des Titels eingelöst und ein ganzer Subway-Zug entführt wird. Rätselhafterweise macht er keinen Mucks, bis das Ding vollständig gelaufen ist. In Tony Scotts Remake aus diesem Jahr schreitet der "Traffic Marshal" zwar beherzt ein, wird aber sofort erschossen: Der Staat kann hier nicht helfen.

Was wohl heißen soll, dass wir mit der entscheidenden Frage am Ende doch allein bleiben: Was tun, wenn neben uns in der S-Bahn jemand angegriffen wird - oder terroristische Entführer die Macht übernehmen? Wegducken? Hilfe holen? Zuschlagen? Die aktualisierte Fassung des Entführungs-Stoffes macht klar, dass es rein gar nichts hilft, sich in diesem Moment so fett, kleinbürgerlich und spießig wie Denzel Washington zu fühlen - und gänzlich unheldenhaft obendrein. Gerade solche Menschen, so lernen wir nämlich, ereilt der Ruf, das Ding im Alleingang zu regeln. Das man dabei sterben kann, ist klar - oder man wird selbst zum Killer, wie es, gegen seinen Willen, am Ende mit Washington geschieht. Darauf legt es das Böse im Nahverkehr an. Eine Antwort, wie man ihm klüger entgegentreten könnte, ist bis jetzt noch nicht gefunden. Nicht einmal im Kino.

© SZ vom 10.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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