Türkische Chronik (XXXVIII):Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben?

Präsident Erdogan wieder AKP-Mitglied

Die Rede, die Erdoğan am 2. Mai anlässlich seines Wiedereintritts in die AKP gehalten hat, war "so laut und brutal wie all seine Reden der letzten Zeit", findet Yavuz Baydar.

(Foto: dpa)

Mittlerweile haben sich 37 Opfer von Erdoğans Massenentlassungen umgebracht. Und was macht der Präsident? Er ruft die Türken auf, "ja nie Gnade" zu zeigen.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Einige Optimisten sagten voraus, Erdoğan würde sich etwas entspannen und weicher werden, wenn er nur erst sein Referendum gewonnen hat. Wie falsch sie alle doch lagen. In der Türkei läuft eine Art Großversuch, wie weit man die Grausamkeit noch treiben kann.

Dank des Referendums konnte der Präsident ja wieder in seine eigene Partei eintreten. Allem Anschein nach hatte er es überaus eilig, in einer Zeremonie wieder aufgenommen zu werden. Zu der Gelegenheit hielt er eine Rede, und die war so laut und brutal wie all seine Reden der letzten Zeit. Als es um die Opfer der "Säuberungen" ging, sagte er: "Es kann sein, dass ihr Menschen trefft, die Tränen vergießen. Zeigt ja nie Gnade mit diesen Winselern! In dem Moment, in dem wir Gnade zeigen, verwandeln wir uns selbst in Menschen, die der Gnade bedürfen!"

Tödliche Schande: 37 Betroffene haben sich nach den Massenentlassungen umgebracht

Es hagelt auch weiterhin Dekrete. Zwei davon haben zur Folge, dass 4000 Menschen entlassen wurden, darunter 484 Akademiker. 8000 Wissenschaftler sind mittlerweile von den "Säuberungen" betroffen. Insgesamt haben 150 000 Menschen ihre Arbeit verloren. Und es wird weitergehen mit diesen Dekreten, schließlich wird in Ankara gerade an einem neuen Staat gebastelt, der sich auf Beamte stützen wird, deren einziges Verdienst ihre Loyalität ist.

Einem Bericht der Oppositionspartei CHP zufolge haben sich seit Verhängung des Ausnahmezustands 37 Menschen umgebracht, die von den "Säuberungen" betroffen waren. Nach den letzten beiden Dekreten haben sich zwei Polizisten mit ihren Dienstwaffen erschossen.

"Es kam mir vor, als trügen wir alle plötzlich ein Stigma"

Die BBC brachte einen Bericht über einen Oberstudienrat namens Ergül Yıldız, der sich kurz nach seiner Entlassung am "Lehrertag", den wir jeden November feiern, umgebracht hat. Sein Bruder Bekir sagte, dass er über die Entlassung nicht hinweggekommen sei. "Sein Blick, seine Bewegungen, alles änderte sich. Was ihn am meisten empörte, war, dass die Leute wegsahen, wenn sie ihm auf der Straße begegneten. Alte Bekannte sprachen plötzlich nicht mehr mit ihm. Wir haben das auch zu spüren bekommen, es kam mir vor, als trügen wir alle plötzlich ein Stigma." Aber wie sagte doch Erdoğan: "Zeigt ja keine Gnade!"

Eine von denen, die Erdoğans Wiederantrittsrede als AKP-Mitglied gehört hat, war Oya Baydar, eine renommierte Autorin und eine der letzten unabhängigen, mutigen Stimmen in der Türkei. "Während ich Ihnen zuhörte, empfand ich Mitleid mit Ihnen", schrieb sie daraufhin. "Ich weiß nicht, ob Sie sich im Klaren darüber sind, dass Sie nicht nur jeglichen Bezug zur Wirklichkeit verloren, sondern auch Ihren Nachruhm verspielt haben. Als ich Sie reden hörte, wurde mir wieder klar, dass all die Ungerechtigkeiten, diese Welle des Leids, die so zufällig, so willkürlich über uns alle hereinbricht, ausschließlich von Ihnen und Ihren Befehlen verursacht wurde. Die Richter und Staatsanwälte, die Gerichte, die Geheimdienste und Polizeikräfte - sie alle handeln so brutal und rabiat, weil sie von Ihnen die Order erhalten, kein Mitleid zu zeigen. Nur deshalb schrecken sie nicht davor zurück, das Recht zu beugen, Zigtausende Unschuldige in den Knast zu werfen oder zu feuern, ihnen ihr Hab und Gut wegzunehmen und das Leben ihrer Ehefrauen und Kinder zu zerstören."

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Alex Rühle.

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