Türkische Chronik (XXX):Farce des türkischen Rechtssystems

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Solidaritätsbekundung für Pınar Selek in Istanbul im Jahr 2012. (Foto: dpa)

Die Feministin Pınar Selek stand viermal wegen desselben Vorwurfs vor Gericht. Sie wurde stets freigesprochen. Trotzdem droht ihr lebenslange Haft.

Von Yavuz Baydar

Als wir vergangenen Freitag beim International Human Rights Film Festival (FIFDH) in Genf vor vollem Saal auf die Bühne traten, wirbelten mir die Worte meines seit Monaten inhaftierten kurdischen Kollegen İnan Kızılkaya im Kopf herum.

Wir waren in Genf zusammengekommen, um über die niederschmetternden Notstandsgesetze der Türkei zu sprechen: außer mir der UN-Menschenrechts-Berichterstatter für die Türkei, Nils Medzel, die türkische Publizistin, Soziologin und Aktivistin Pınar Selekder und der regimekritische Verfassungsrechtsexperte Kerem Altiparmak, der das Land nicht verlassen durfte und über Skype zugeschaltet wurde.

Ich musste an İnan Kızılkaya denken, der mir einen Brief aus dem Gefängnis geschickt hatte. Früher war er leitender Redakteur der kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem, die mittlerweile geschlossen wurde. "Wir werden mit dir wie mit Musa Anter verfahren", wurde ihm während eines Verhörs in der Untersuchungshaft mitgeteilt. "Wir werden dich in einen Brunnen voller Säure werfen."

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Musa Anter, ein kurdischer Intellektueller, war Anfang der Neunzigerjahre von einem Unbekannten, der mutmaßlich zu einer paramilitärischen türkischen Einheit gehörte, erschossen worden. Und der "Säure-Brunnen" war zur damaligen Zeit ein gängiges Tötungsmittel, mit dem Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK auf bestialische Weise umgebracht wurden.

Während der Podiumsdiskussion berichtete Nils Medzel über die Zustände in den türkischen Gefängnissen, die er nach dem Putschversuch besucht hatte. Er wählte seine Worte mit Bedacht, doch zwischen den Zeilen wurde klar, dass die Inhaftierten durch die Hölle gehen. Besonders schlimm müssen die Zustände in der Untersuchungshaft sein.

Mittlerweile im Exil

Niemand weiß besser, was es bedeutet, den türkischen Staat als Gegner zu haben als Pınar Selek, die in der Talkrunde neben mir saß. Der undurchsichtige Prozess, der seit nunmehr 19 Jahren gegen die Pazifistin, Feministin und Autorin geführt wird, ist besonders perfide.

Als Selek, die mittlerweile im Exil lebt, über den gewaltvollen und ungerechten Prozess berichtete, bekamen die Zuhörer eine Ahnung davon, was die inhaftierten Regimegegner aktuell alles aushalten müssen.

Das Drama begann, als Selek wegen eines terroristischen Anschlags angeklagt wurde. Heute, nach fast zwei Jahrzehnten, droht ihr immer noch das Urteil "lebenslang". Und das, obwohl sie bereits vier Mal freigesprochen wurde. Wie kann das sein? Nun, für jeden rational denkenden Geist ist dieser Fall nicht zu verstehen. Vielleicht muss man Kafka und Orwell gelesen haben, um ihre Situation verstehen zu können.

Es war so: Am 9. Juli 1998 erschütterte eine Explosion den Ägyptischen Basar in der Altstadt von Istanbul. Sieben Menschen starben, etwa 130 wurden verletzt. Der kurdische Aufstand hatte zu jener Zeit seinen Höhepunkt erreicht, die mächtige türkische Armee kontrollierte damals alle staatlichen Institutionen und große Teile der Justiz.

Der Rest der Zusammenfassung stammt von meinem Kollegen Cengiz Çandar, der den komplizierten Fall genau verfolgt hat: "Die Ermittler verdächtigten die junge Soziologin Pınar Selek, die durch ihre nonkonformistische Art von sich reden gemacht hatte, an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Ein vorgebliches Mitglied der PKK, der als Hauptverdächtiger der Tat galt, hatte gegen sie ausgesagt.

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Schlussendlich wurde aber aufgedeckt, dass er all das unter Zwang ausgesagt hatte. Seltsamerweise wurde dieser Mann, der später zugab, er habe Selek nicht einmal gekannt und sei unter Folter zur Namensnennung gezwungen worden, nicht verurteilt.

Im Gegensatz zu ihm verbrachte Selek zweieinhalb Jahre im Gefängnis - bis sie vorübergehend freigesprochen wurde. Obwohl alle Beweise dafür sprechen, dass die Explosion durch Gasflaschen verursacht wurde, wie eine Vielzahl von Experten dem Gericht bestätigten. Selek wurde ein weiteres Mal freigesprochen, und wieder kassierte eine höhere Instanz die Entscheidung. Ein neuer Prozess, eine neue Beweisaufnahme, neue Expertenberichte, und Selek wurde wieder freigesprochen."

Zur Farce gehört auch, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte trotz dieses langen und unmöglichen Prozesses weigert, Seleks Beschwerde anzunehmen. Die Begründung: Sie müsse erst sämtliche Rechtsmittel in der Türkei ausschöpfen, bevor sie sich an ihn wenden könne. Nach allem, was sie durchgemacht hat, erstaunt es sie nicht, dass Zehntausende Regimekritiker inhaftiert und gemeine Verbrecher entlassen werden, um Platz zu schaffen, sagt sie.

Viele Gefangene im Hungerstreik

Als ich Genf verließ, erreichten mich Informationen aus dem Europarat. Der Bericht besagte, dass sich die Zahl der Gefängnisinsassen in der Türkei zwischen 2006 und 2015 fast verdoppelt habe, während sie in vielen anderen Mitgliedsstaaten gefallen sei. Die überfüllten Gefängnisse sind ein Pulverfass. Die Anwälte einer großen kurdischen Solidaritätsorganisation gaben erst am Mittwoch bekannt, dass viele Gefangene in den Hungerstreik treten und sich diese Form des Protestes erheblich ausweiten könnte.

In der Türkei haben sich die Forderungen nach menschlichem Anstand in einen unaufhörlichen Kampf umgewandelt. Am Mittwoch etwa verhaftete die Polizei Raci Bilici, den stellvertretenden Vorsitzenden der NGO Human Rights Association. Der Ausnahmezustand, durch den die Bevölkerung schikaniert wird, ist bereits jetzt unerträglich geworden - und trotzdem befindet sich die Türkei weiterhin im In- und im Ausland auf Konfrontationskurs.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Anna Fastabend.

© SZ vom 17.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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