Als ich mich vorhin hinsetzte, um die Geschichte des Pianisten aufzuschreiben, der ins Gefängnis kam, prasselten schon wieder neue Horrormeldungen rein, Meldungen, die wirken, als würde man einen Film zu schnell anschauen - und die mich in ihrer Gesamtheit an eine Volksabstimmung vom August 1934 erinnern, die Volksabstimmung über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs.
Aber der Reihe nach: Die Woche begann mit Schreckensnachrichten aus einigen belagerten kurdischen Dörfern nahe der Stadt Nusaybin an der syrischen Grenze, in denen die Bewohner gefoltert und hingerichtet wurden.
Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge.
Danach ging ein Kulturzentrum, das dem bekannten Comedian Müjdat Gezen gehört, der für seine kritische Haltung gegenüber Erdoğan bekannt ist, in Flammen auf. Und die Festnahmen, Entlassungen und erneuten Festnahmen einiger Abgeordneter der prokurdischen Partei HDP gleichen in ihrem Hin und Her fast schon einem Yoyo-Spiel.
All das findet statt vor dem Hintergrund einer großen Schlacht um das Referendum, durch das Erdoğan erreichen möchte, dass er zukünftig nicht mehr nur Staats-, sondern auch Regierungschef sein wird.
Die Atmosphäre ist aufgepeitscht, erste Prozesse gegen Putschisten vom Sommer beginnen, viele rufen nach der Wiedereinführung der Todesstrafe. Mit anderen Worten: Die Türkei gleicht dem Wilden Westen. Nur dass unser Sheriff der Verrückteste von allen zu sein scheint.
U-Haft wegen ein paar Tweets
Konzentrieren möchte ich mich heute aber auf die tragische Geschichte des jungen Pianisten Dengin Ceyhan, der am 14. Februar festgenommen wurde. Seine Inhaftierung hat einen großen Symbolwert.
Der Klavierspieler Ceyhan ist in seiner Generation sehr bekannt. Bei den Protesten im Gezi-Park im Sommer 2013 war er ganz vorne mit dabei. Während der Besetzung des Taksim-Platzes machte er zusammen mit dem deutsch-italienischen Musiker Davide Martello Musik. Später engagierten sich die beiden in der Kampagne "Piano for Soma", die sich für Stipendien für die Kinder der Opfer des Minenunglücks von Soma einsetzte, bei dem 301 Arbeiter ums Leben gekommen waren.
Dengin Ceyhan wurde nun festgenommen, weil er in seinen Tweets deutlich gegen Erdoğan protestiert hatte. Ein Gericht hat entschieden, dass er dafür in Untersuchungshaft kommen sollte. So wie es momentan aussieht, wird er dafür vermutlich einige Zeit hinter Gittern verbringen müssen - so wie viele Journalisten und Regimekritiker in der Türkei.
Die vielen Subkulturen Istanbuls verschwinden
Ceyhans Festnahme unterstreicht, wie wenig vom Geist der Gezi-Generation übrig geblieben ist, vom kulturellen Widerstand in den heißen Wochen im Juni 2013, der auch durch die Liebe zur Musik getragen wurde. Die Musik war der Treibstoff dieser intelligenten Rebellion.
Nur drei Jahre später - nachdem in der Türkei eine aggressive Form des Provinzialismus und des Fanatismus das Ruder übernommen hat - ist nicht mehr viel übrig von dieser Kraft der Musik. Genauso wie von der kosmopolitischen Kultur und den vielen Subkulturen, die Istanbul noch bis vor wenigen Jahren zu einem Besuchermagneten machten und deren positive Einflüsse nach und nach verschwinden.