Sexismus:"Me Too" war ein Gesprächsangebot - ihr lasst es verstreichen

2018 Women's March In Berlin

Kundgebung in Berlin: Es wurde hierzulande zwar demonstriert, aber es kam kaum ein öffentliches Gespräch zustande.

(Foto: Getty Images)

Die Gesellschaft in Deutschland vergibt gerade die Chance, das Zusammenleben der Geschlechter zu verbessern. Die Öffentlichkeit hierzulande kann mit der Verletzbarkeit der Frau nicht umgehen.

Gastbeitrag von Jagoda Marinić

Ich stieß auf die Texte des Psychoanalytikers Arno Gruen, als ich zu verstehen versuchte, was mit den Menschen in Jugoslawien Anfang der Neunzigerjahre geschehen war, als sie nicht nur in den Krieg zogen, sondern strategisch Vergewaltigungen als Mittel der Kriegsführung gebrauchten. Was ist es, das Frauen in Zeiten des Krieges mit zu den Schwächsten macht? Ist es nur die physische Unterlegenheit? Hatten diese Männer nicht selbst Frauen und Töchter, in jedem Fall Mütter? Weshalb konnten Männer Frauen in dieser Form verachten? Und wohin geht diese Verachtung in Friedenszeiten?

Die Familie von Arno Gruen war vor dem zerstörerischen Hass der Nationalsozialisten geflohen. Später verbrachte Gruen sein Leben damit, den Hass auf "den Fremden" zu verstehen. In seinem Buch "Der Fremde in uns" legt er eindrucksvoll dar, weshalb der gehasste Fremde immer auch wir selbst sind: Selbsthass kann sich auf jeden richten. Jeder kann zum Fremden werden. Arno Gruens Stimme fehlt heute, zu wenige denken darüber nach, wie das Zusammenleben im Kleinen gestaltet sein muss, damit es im Großen gelingt. Gruen wusste das gesellschaftliche Versagen zurückzuführen auf Liebe im Einzelnen. Auf fehlende Liebe und fehlgeleitete Liebe.

Einmal durfte ich Gruen bei einem Vortrag erleben. Da erzählte er davon, wie es war, als Therapeut vor einem Mörder zu sitzen, der anderen den Hals aufschneiden könne wie ein normaler Mensch eine Salami. Und Empathie für diesen Mörder zu empfinden. All die Gräueltaten, die Härte, der Hass in Menschen - Gruen hat sie zu ergründen versucht. Er hat in zerstörte Seelen geblickt. Am Ende der Veranstaltung stellte jemand die Frage, was denn zu tun sei, um solche Abscheulichkeiten in Zukunft zu verhindern. Gruen zögerte nicht lange: das Gespräch zwischen Männern und Frauen vertiefen. Sich verzweigen. Der Frau Freiräume vom Muttersein schaffen. Dem Mann Freiräume fürs Vatersein.

Die so einfache Antwort eines Mannes, der die radikalsten Formen der Empathielosigkeit der menschlichen Zivilisation studiert und therapiert hatte. Aus der Liebe zwischen Mann und Frau erwachse letztlich alles: die Liebe zum Kind. Die Bindung des Mannes ans Leben statt an die Zerstörung. Heute gilt es natürlich auch, dies von den biologischen Geschlechtern zu entkoppeln. Es geht um Liebende an sich. Es geht aber auch um die klassischen Rollen von Mann und Frau.

Persönliche Erzählungen sind ein Weg zur Empathie - anders als abstrakte Argumente

Das Grauen heute ist kälter. Wer tötet, muss seinen Opfern nicht zwingend gegenüberstehen. Wer tötet, kann das heute "zivilisiert" tun. Per Unterlassung, Knopfdruck oder Dekret. Arno Gruen kritisierte das abstrakte Denken, weil es unsere Fähigkeit zur Empathie unter sich begräbt. Und was ist aus dem Gespräch zwischen Mann und Frau geworden, in dem er die Grundlage für alles sah? Das jüngste öffentliche Gesprächsangebot war "Me Too". In Deutschland ist dieses Angebot bislang kläglich gescheitert. Einerseits ist die Frauenbewegung eine der erfolgreichsten Menschenrechtsbewegungen. Andererseits ist da der neue Siegeszug eines faschistischen Denkens, die militärische Aufrüstung, die Wiederkehr des autoritären Mannes an die Macht. Manche klagen, ein zu dominanter Feminismus habe die Männer in die Krise getrieben. Gleichzeitig können Ministerien es sich heute noch leisten, auf Frauen in der eigenen Führungsetage zu verzichten. Männer führen das Gespräch an der Macht weiterhin gerne unter sich.

Wer nicht auf Frauen verzichten kann, ist hingegen das deutsche Verteidigungsministerium: In einer bis dato ungekannten Kampagne rekrutiert es unter Ursula von der Leyen Nachwuchs in Schulen und gewinnt eine noch nie dagewesene Zahl an Minderjährigen - insbesondere Frauen. Nun haben also die Frauenbewegung, der Körperkult, der Muskeln stählt, und die Filmindustrie Frauen tatsächlich neue Rollenangebote eröffnet. Absurd, dass sie im Militär eher realisiert werden als in deutschen Vorständen. Ist es zu gewagt, wenn ich sage: Frauen gebären jetzt in aller Öffentlichkeit den Mann in sich zu Ende? Doch wo sind die Räume, in denen der Mann die Frau in sich gebiert? Weil "Me Too" in Deutschland nicht in Gang kommt, herrscht - abgesehen von Dieter Wedel - das große Schweigen. Am Männerbild ändert sich wenig. Die weiblichen Anteile des Mannes werden noch immer zu wenig geliebt. Auch von Frauen.

"Me Too" war eine Gelegenheit, die Verletzbarkeit durch Machtmissbrauch an die Öffentlichkeit zu bringen. Es war ein Moment, um Geschichten zu erzählen. Geschichten sind der Königsweg zur Empathie. Bei "Me Too" ging es nie darum, die Frau zum Opfer zu machen oder Männer zu Freiwild. Es ging darum zu zeigen, wie aus Verletzungen eine Stärke erwachsen kann, die Veränderungen bringt. Daraus hätte sich ein Gespräch ergeben können. Über Männer, Frauen, Rollenbilder und Macht. Doch mit der Verletzbarkeit der Frau konnte die Öffentlichkeit hierzulande nicht umgehen. Im englischsprachigen Raum gibt es eine Tradition des "I confess ...". Ich gestehe und sage "ich" dabei. Dieses "Ich" ist kein Argument, es ist der Beginn einer Geschichte.

Bisher wurde die Chance, über Geschichten miteinander in Verbindung zu treten, nicht oder zu selten ergriffen. Dieser Fehler ist auch allen Menschenrechtsbewegungen derzeit anzukreiden: Sie haben sich dem abstrakten Denken verschrieben. Sie argumentieren mit Statistiken und Gesetzen, mit Daten und Fakten. Sie brauchen Unterstützer, doch kreieren sie Schüler, denen sie Nachhilfe geben in Linguistik und in der akademischen Analyse der Sprache der Macht. Diese Abstraktion ist ein Versuch, die eigene Ohnmacht zu rationalisieren. Sie sagt nicht, wo man selbst steht. So bleibt man letztlich, trotz aller Argumente, unsichtbar. Die Narrationen fehlen. Der Mut zu fühlen und mitzufühlen.

Durch Geschichten kann etwas aufgehen in Menschen, Argumente können das nicht in gleicher Weise bewirken. Natürlich basiert Diskurs auf Argumenten. Doch ein Gespräch basiert nicht allein auf Diskurs. Ein Gespräch kommt dann zustande, wenn eine Gesellschaft lernt, auch das Schmerzhafte anzuhören. Im Kleinen wie im Großen.

Kolumne von Jagoda Marinić

Jagoda Marinić, Jahrgang 1977, ist Schriftstellerin, Kulturmanagerin und Journalistin. Auf Twitter unter @jagodamarinic. Sie studierte Politikwissenschaft, Germanistik und Anglistik an der Universität Heidelberg. In ihrem aktuellen Debattenbuch "Sheroes" plädiert sie für ein lebhaftes Gespräch unter den Geschlechtern. Alle Kolumnen von ihr finden Sie hier.

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