Sexfilme auf der Berlinale:Blick in den Schritt

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Ja, es geht um Sex - aber eigentlich um noch viel mehr in Lars von Triers "Nymphomaniac". (Foto: dpa)

Als "schlüpfrigste Berlinale aller Zeiten" wurde sie betitelt, und in der Tat - es gibt sehr viele Sexfilme auf dieser 64. Berlinale. Doch wer sich die Filme ansieht, merkt schnell: Es geht um sehr viel mehr.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Als "schlüpfrigste Berlinale aller Zeiten" wurde sie betitelt, und in der Tat - es gibt sehr viele Sexfilme auf dieser 64. Berlinale. Doch wer sich die Filme ansieht, merkt schnell: Es geht um sehr viel mehr.

"Nymphomaniac" ist das berühmteste Beispiel: Was für ein Rummel um ein bisschen Sex, denkt man vorab, braucht es wirklich ein Vier-Stunden-Epos, dann auch noch aufgeteilt in zwei Teile, und zur Berlinale nochmal eine extralange Ausgabe, dazu den Wirbel um sowohl Regisseur Lars von Trier als auch den männlichen Hauptdarsteller Shia La Beouf, um einen Erotikfilm an den Mann zu bringen?

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Beim Schauen des Films wird dann aber klar: Es ist nicht nur ein bisschen Sex, sondern sehr viel davon. Und das ist gut so. Weil der Film über eine Nymphomanin eben nicht einfach mit der Kamera draufhält und sich mit voyeuristischen Bildern der schönen jungen Darstellerin begnügt. Sondern die ganz zentralen Fragen der menschlichen Existenz in absolut notwendiger Intensität auf den Tisch bringt: Liebe und Tod, Eifersucht und Betrug, Ehe und Kinderkriegen, Beziehungen und sowohl die Sehnsucht nach dauerhafter Bindung als auch das Unvermögen, für einen anderen Menschen alles zu sein, was er sich wünscht. Das Ausdrücken und Zurückhalten von Gefühlen, das Ausleben von Träumen und die Restriktion durch sich selbst oder die Gesellschaft, den schmalen Grat zwischen Normalität und Sucht.

Nicht nur eine gleichzeitig quälend lange wie auch urkomische Szene mit Uma Thurman, die als betrogene Ehefrau vor den Augen ihrer drei kleinen Söhne ihrem Mann und der Geliebten eine Riesen-Szene macht, ist psychologisch und filmisch bis zur Perfektion ausgereizt. Auch die Szene, in der Christian Slater als Vater der jungen Nymphomanin im Krankenhaus stirbt und sich unmittelbar im Todeskampf windet, während seine Tochter im Krankenhauskeller mit fremden Männern Sex hat, weil sie einfach nicht anders kann, zeigt, dass das alles andere ist als ein schlüpfriger Sexfilm. Sondern dank der großartigen Darsteller und Lars von Trier ganz großes Kino. Und so ernsthaft wie witzig.

Sex sells - Gott sei Dank

Ähnlich ist es mit den anderen Filmen auf dieser 64. Berlinale, die auf den ersten Blick nur eins im Sinn haben: Sex sells. "Vulva 3.0" heißt die Dokumentation von Ulrike Zimmermann und Claudia Richarz, sämtliche vier Vorstellungen sind erwartungsgemäß schnell überfüllt. Was die Zuschauer dann aber zu sehen bekommen, ist keineswegs eine billige Zurschaustellung des Unterleibs der Frau, sondern Aufklärungsunterricht im klassischen Sinne.

Natürlich ist es wirklich so, dass im Gegensatz zu Männern viele Frauen gar nicht wissen, wie genau sie untenrum aussehen, welcher Teil ihres Geschlechtsteils wofür zuständig ist, dass viele sich sogar dafür schämen und das Wissen über das primäre weibliche Geschlechtsmerkmal im 20. Jahrhundert fast komplett verschütt ging. Während sich aber einerseits seit Jahrtausenden ein Riesen-Mythos um Mütterlichkeit und Fruchtbarkeit rankt, tritt andererseits das "Wollust-Organ" der Frau im Gegensatz zu dem des Mannes in der öffentlichen Wahrnehmung derart in den Hintergrund, dass kaum jemand wirklich Bescheid weiß darüber, weder Frau noch Mann.

Aus einem alten medizinischen Lehrbuch: Beim Fötus unterscheiden sich die Geschlechtsteile noch kaum voneinander - lehrt die Doku "Vulva 3.0" von Ulrike Zimmermann und Claudia Richarz. (Foto: Berlinale-Filmstill)

Und so zeigen die Filmemacherinnen schockierende Bilder aus der Intimchirurgie, die für die Ärzte sehr gewinnbringend auf dem Vordermarsch ist, seit Frauen sich zunehmend der dauerhaften Intimrasur unterziehen und ihnen eingeredet wird, dass sie sich im Schritt jetzt auch noch perfektionieren müssten. Da werden massenweise Schamlippen normiert, um sie auf ein vermeintliches Gardemaß zurechtzustutzen, das die Porno-Industrie vorgibt, mit manipulierten Bildern. Gezeigt werden nicht nur ein Vertreter der Pornoindutrie, der massenweise Bildschirm-Korrekturen an vermeintlich unschönen Vaginas vornimmt, sondern auch viele Wissenschaftlerinnen, die eine ganze Menge Infos darüber weitergeben, inwiefern die weibliche Sexualität auch zugunsten von Machtverhältnissen weltweit immer noch versucht wird zu beschneiden, zu unterdrücken und zu kontrollieren - von Männern wie Frauen.

Dabei sieht das Geschlechtsteil der Frau, wenn man es denn genau betrachtet, in den ersten zehn Wochen des Lebens gar nicht anders und danach auch nicht viel anders aus beim Mann, nur ist eben alles ein bisschen kleiner und verdeckter. Das sieht aber nur, wer genau hinschaut. Und solche anatomischen Bilder gibt es kaum für die Öffentlichkeit, abseits der pornographischen, auch die Medizin hat die weibliche Sexualität nicht mal annähernd so ausgiebig erforscht wie die des Mannes. Warum? Weil es immer noch eine unerklärliche Angst vor dem unbekleideten Menschen gibt, wie ein Protagonist vermutet?

Es sind unterschwellige Motivlagen und unbewusste Handlungsweisen, die Zimmermann und Richarz mit ihrer so unterhaltsamen wie schockierenden Doku sehr geschickt ans Licht der Öffentlichkeit bringen - und man kann ihnen und der nachfolgenden Generation nur wünschen, dass ihr Film an Schulen und im Aufklärungsunterricht gezeigt werden darf.

"Quick Chance" ist ein weiterer Film, der sich fast ausschließlich um Geschlechtsteile dreht - allerdings vor allem um die sekundären. "Du wirst schön sein, und es tut gar nicht weh", verspricht Dorina ihren Kundinnen. Dass es dann doch sehr anders kommt, zeigt der dokumentarisch angelegte Spielfilm über die philippinische Transgender-Szene auf beeindruckende Weise. Dorina spitzt ihren Kundinnen vermeintliches Collagen in Hüften, Brüste und Wangen, das sie weiblicher erscheinen und dem Sieg bei einem der unzähligen Wettbewerbe als "Miss Gay" oder "Miss Amazing" näherbringen soll.

Immer geht es um noch mehr Schönheit und die Perfektionierung des Körpers, alles dreht sich um das eine, immer wieder rezipierte Ideal der anmutigen, jungen, lieblichen Frau. Doch in den Spritzen ist in Wirklichkeit Babyöl, gepanscht mit Wasser, oder sogar Motoröl. Als zwei Kundinnen sterben, geht Dorina zwar zurück in ihre Heimat, um ihre traurige Karriere als Todesengel zu beenden. Doch ihre Nachfolgerinnen stehen schon bereit, denn die Szene ist süchtig nach den kleinen Treatments, die billiger sind als jede echte Schönheits-OP. Und der Tanz auf dem Vulkan geht weiter.

Politisch ambitioniert, sexuell konnotiert

Regisseur Eduoardo Roy Jr. bedankte sich nach der Vorführung seines Films überschwänglich dafür, ihn auf diesem Wettbewerb überhaupt zeigen zu dürfen. Denn innerhalb seines Landes, so der engagierte junge Filmemacher, werde das schwierig. Seine Hauptdarsteller sind im Übrigen allesamt Laiendarsteller aus der philippinischen Transgender-Szene. Was der schauspielerischen Darstellung keinerlei Abbruch tut - im Gegenteil.

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Von Ruth Schneeberger, Berlin

Sehr gehypt auf dieser Berlinale wurde die amerikanische Filmemacherin Josephine Decker mit gleich zwei Filmen, was wohl auch daran liegt, das beide von weiblicher Verführungskraft erzählen: " Butter on the Latch" und " Trough Wast Mild and Lovely" handeln von jungen Frauen, deren Liebhaber aber auch ein Wald oder die ganze Welt sein kann. Die Liebe dazu manifestiert sich eben nur in diesem einen Mann, für eine vorübergehende Zeit. Das hebt die Liebhaberschaft auf eine zwar positivere aber doch ähnliche Ebene wie es die junge Antiheldin in "Nymphomaniac" tut: Sie schläft zwar mit bis zu zehn Männern am Tag, aber in ihrer Phantasie ist es immer nur ein einzelner Liebhaber, zusammengesetzt aus allen hervorzuhebenden Einzelteilen ihrer Lieblings-Sexpartner. Sie hätte das auch lieber anders und macht sich schreckliche Vorwürfe. Doch ihre Sucht treibt sie und andere in die Verzweiflung.

Und dann gibt es noch " She's lost Control" von Anja Marquardt aus Berlin, die in New York Film studiert hat, ihr großes Erstlingswerk. Einfühlsam wird gezeigt, wie eine junge Sexualtherapeutin anderen Menschen in Hotelzimmern beibringen will, sich zu öffnen. Klar, dass sie dabei selbst immer die Kontrolle behalten muss - bis sie sich verliebt. Auch das ist alles andere als kitschig oder klischeebeladen, Marquardt kommt es darauf an, zu zeigen, dass es außer Liebe und Sex noch sehr viel mehr geben kann zwischen zwei Menschen, und zwar genau dazwischen: "Oft wird Intimität mit Sexualität gleichgesetzt. Mir war es in meinem Film sehr wichtig, einen anderen Standpunkt, einen anderen Blickwinkel einzunehmen. Zu untersuchen, wie Intimität zwischen zwei Menschen wirklich aussehen kann", so die 33-Jährige. Es ist ihr gelungen.

So wie es auch der Berlinale-Jury gelungen ist, ganz viele weitere Filme ziemlich klug auszuwählen, die sich auf den ersten Blick um Sex drehen, auf den zweiten aber um viel mehr, deutlich jenseits von Pornographie. Fast ein halbes Jahrhundert nach der sexuellen Revolution gelingt es auf diesem Filmfest endlich, sich dem Thema an allen Ecken und Enden mit der gebotenen Tiefe und Offenheit zu widmen, die es durchaus verträgt.

Wir sind ja inzwischen alle so offen - aber so richtig durchdrungen wurde das Thema Sex im beginnenden 21. Jahrhundert in seinen mächtigen so politischen wie persönlichen Auswirkungen offenbar noch nicht. Diese Filme zeigen das. Und das ist gut so.

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