Popkolumne:Das Lieblingslied des US-Präsidenten

Barack Obama hat einen Protestsong zu seinem persönlichen Hit des Jahres erklärt. Und Prince erholt sich von der schlechtesten Platte seiner Karriere.

Popkolumne von Annett Scheffel

Barack Obama

1 / 4
(Foto: label)

Vorweihnachtszeit ist Bestenlistenzeit. Jetzt beweist auch Barack Obama wieder Geschmack, nachdem er im August schon seine persönliche Sommer-Playlist bei Spotify geteilt hatte: Sein Lieblings-Song des Jahres ist Kendrick Lamars "How Much a Dollar Cost". Passt wunderbar: Der erste schwarze US-Präsident hört gern Hip-Hop, der davon handelt, was es bedeutet, in den USA schwarz zu sein. Ein kluger Schachzug, auch weil Lamar gerade in so ziemlich allen Kritiker-Bestenlisten sehr gut wegkommt. Noch interessanter wird die Sache im Kleingedruckten: "How Much a Dollar Cost", Lamars Parabel über einen Obdachlosen, der sich als Gott entpuppt, ist im Vergleich zu den viel stärkeren "King Kunta" oder "The Blacker the Berry" eine ungewöhnlich Wahl. Für einen Politiker der Meinungsmitte aber perfekt: Es ist das vielleicht am wenigsten antiautoritäre Stück auf Lamars LP "To Pimp a Butterfly", maximal cool und minimal provokativ. Man weiß nicht, über wen man mehr staunen soll: über Obama, der einen Protestsong feiert und trotzdem nicht allzu vielen auf die Füße tritt? Oder über Lamar, der es schafft, mit dieser hochpolitischen Platte das System bloßzustellen und trotzdem vom Präsidenten geliebt zu werden? Hmm ...

Archy Marshall

2 / 4
(Foto: oh)

Noch ein Coup der Woche: Archy Marshall heißt der bleiche, junge Brite mit der unnachahmlich grummelnden, knurrenden Stimme, der schon unter vielen Pseudonymen ganz verschiedene Musik gemacht hat. Am besten bisher: das atmosphärische Gemisch aus Urban Soul und Postpunk auf seinem Debütalbum als King Krule ("6 Feet Beneath the Moon", 2013). Noch besser, noch ausgefeilter ist jetzt "A New Place 2 Drown" (XL Recordings). Die Zusammenarbeit mit seinem Bruder Jack ist ein Multimediaprojekt: Die zwölf Lieder sind der Soundtrack zu einem Buch und einem Kurzfilm über den Alltag der Marshall-Brüder in Südlondon. Marshalls Stimme - very british in dieser mauligen Art - schwebt durch die knackenden Ambient-Stücke, die einen trotz ihrer wolkenverhangenen Stimmung nie ganz zur Ruhe kommen lassen: Hektisch und sprudelnd hallt das Echo der Großstadt in ihnen nach, in Geräuschfetzen und surrenden Synthesizern. Man muss sich davon einwickeln lassen wie von einer Nebelwolke. Die Zeit dafür sollte man sich nehmen.

Prince

3 / 4
(Foto: oh)

Nur drei Monaten nach seiner LP "HITNRUN Phase One" zündet Prince bereits die nächste Phase. Genau, "HITNRUN Phase Two" (NPG Records), man hatte es befürchtet. Denn nach der wahrscheinlich schlechtesten Platte seiner Karriere ist "Phase Two" zwar wieder ein wenig besser, man wird aber das Gefühl nicht los, der Purple Prince wolle so bald nicht wieder aus dem warmen Sprudelbad der Selbstparodie auftauchen. Die Songs klingen noch nach Prince, aber so, als wolle er nichts von alldem wissen, was sich in Funk und Popmusik seit den Siebzigern getan hat. Da wäre etwa "Baltimore", eigentlich ein toller, wichtiger Protestsong zur aktuellen Lage in Black America, der aber mit fürchterlich kitschigen Gitarren-Licks wie der Titelsong einer Achtziger-Nachmittags-Sitcom klingt. Oder "2 Y. 2 D.", Prince' Rückkehr zum Lieblingsthema Sex: Die Zeilen über ein langbeiniges Mädchen, "zu jung um sich zu trauen", könnten auch ein Update gebrauchen. Prince scheint vor allem auf Hashtag-ähnliche Songtitel und seine Photoshop-straffe Gesichtshaut zu vertrauen, aber das ergibt noch keine Popmusik der Gegenwart.

Bernd Begemann

4 / 4
(Foto: label)

Womit wir bei Bernd Begemann wären: auch er ein Mann der alten Schule, der Hamburger, um genau zu sein. Auch an seinen Liedern hat sich eigentlich nicht viel verändert. Trotzdem lebt der Liedermacher nicht hinterm Mond, kritisch sind seine Songs, hellwach tanzen die Gedanken. Mit seiner Band Die Befreiung veröffentlicht er jetzt "Eine kurze Liste mit Forderungen" (Popup Records). Klingt nach einer zeitgemäßen Sache, "kurz" und "Liste" passen ja auch zur Aufmerksamkeitsökonomie im Internet - kurzfassen ist aber sein Talent nicht. Er hat viel zu sagen, und das 28 (!) Lieder lang: über St. Pauli, über Beziehungen, "Dinkelmamas", Prekäres und menschliche Verkorkstheiten. Die Einzeiler sitzen ("Liebling, wir haben größere Probleme als uns"), die Kurzgeschichten sind spröde und herrlich verbeult. Trotzdem geht einem die Puste aus bei diesem Sammelalbum dicht an dicht gehefteter, mitteilungsbedürftiger Lieder. In einem Durchlauf ist es fast nicht zu schaffen. Aber ein Song pro Abend bis zum nächsten Vollmond, als musikalischer Spruchkalender für etwas missgelaunte Erwachsene: wunderbar.

© SZ vom 16.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: