Neues Album von den Nine Inch Nails:Enfant terrible, zurück im Kinderzimmer

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Vierfacher Platinstatus und Oscar: Trent Reznor mit den Nine Inch Nails. (Foto: AFP)

Trent Reznor war mit seinem Industrial-Rock-Projekt Nine Inch Nails besessen von Depression und Apokalypse - nun entdeckt er auf dem neuen Album "Hesitiation Marks" sein mildes Herz. Den alten Weltschmerz zelebriert er zwar noch, doch er hat genug Gründe für das Leben gefunden.

Von Holger In't Veld

Enfant terrible, sagt man das heute noch? Der Begriff, den man früher für die Klassiker der Bürgerschreck-Existenz gebrauchte, für die Rolling Stones, Klaus Kinski, Charles Bukowski - er hat doch etwas Verharmlosendes.

Als ob sie alle nur schreckliche Kinder wären, bloß erwachsen werden müssten, um die Kinkerlitzchen hinter sich zu lassen. Trent Reznor hat man noch so genannt, in den Neunzigerjahren, als er der Antichrist der amerikanischen Indie-Musikszene war, das böse Gewissen der euphorischen frühen Bill-Clinton-Zeit. Der Mann hinter der Gruppe Nine Inch Nails, die den Terror in die Kinderzimmer brachte, an allen Jugendverboten vorbei.

Trent Reznor ist jetzt 48, eben hat er "Hesitation Marks" veröffentlicht, das insgesamt achte Nine-Inch-Nails-Album. Dass er überhaupt noch am Leben ist, sei ein kleines Wunder, sagen jetzt viele, dabei ist es ja fast noch erstaunlicher, dass ein ehemaliges Enfant terrible mit fast 50 noch seine Kunst betreibt, auf eine Art, die wohl denselben Fans gefallen wird wie damals.

Nicht ausgebrannt, nicht verblasst. Aber doch in sicherem Abstand zu den Untiefen, die sich in der Musik von Nine Inch Nails auch heute noch auftun.

Am Anfang der Karriere manifestierte sich sein Widerstand noch im üblichen Gitarrenzerschlagen. Fans wurden höchstpersönlich von der Bühne geschubst, wenn seine Gruppen auftraten, die Option 30 hießen, The Innocent und Exotic Bands, und die rockistische US-Interpretationen einer in Europa längst massenkompatiblen Synthesizermusik produzierten.

Freiheit durch Sex und Gewalt

1987 gründete er Nine Inch Nails. Eine Band war das nicht wirklich. Allein zu Hause arbeitete Reznor sich zielstrebig durch frühe MIDI-Applikationen, entwarf seine künstlerischen Ideen mit Keyboard und Computer. Anders als die meisten Nerds drängte es den ehrgeizigen Mann aber in die Öffentlichkeit.

1992 konnte er dann das große postindustrielle Hieronymus-Bosch-Gemälde, das ihm vorschwebte, in angemessener Breitwand inszenieren: Reznor mietete das Haus, in dem Sharon Tate von der Manson-Familie umgebracht worden war, lud sich eine Handvoll professioneller musikalischer Erfüllungsgehilfen ein und schuf das Konzeptalbum "The Downward Spiral" über den Sturz in die selbstmörderische Depression.

Der Soundtrack: verstimmte Instrumente, dissonante Akkordfolgen, verlangsamte Techno-Beats, computervermengt zur bombastisch-perversen Mixtur der Gegensätze. Klassik und Pop, Techno und Rock, Punk und Pink Floyd, dazu Reznors Fantasien, wie man sich durch Sex und Gewalt der Kontrolle der Gesellschaft entziehen könne.

Selbstzerstörung auf Blockbuster-Niveau

Bands wie die englische Joy Division hatten ähnlichen Weltschmerz früher und innovativer formuliert, doch Nine Inch Nails brachten die Selbstzerstörung auf Blockbuster-Niveau. Und erreichten damit in kürzester Zeit die erstrebte Augenhöhe mit dunklen Größen wie Depeche Mode und Metallica.

"The Downward Spiral", erreichte seit 1994 allein in den USA vierfachen Platinstatus, bis heute hat Reznor 30 Millionen Tonträger verkauft.

Aber warum eigentlich? Warum lieben Menschen Beethoven, Wagner, Black Sabbath, Velvet Underground, die Doors, Depeche Mode, Metallica, Eminem oder Rammstein? Die mehr oder weniger werkimmanent negative Sicht auf die Welt, transportiert durch klangliche Überwältigung?

Es wird immer nur ein unfaires Zerrbild herauskommen, wenn man versucht, sich die typischen Nine-Inch-Nails-Fans vorzustellen. Versuchen darf man es dennoch: Es sind die, die gute Laune mit Servicelächeln und Smileysymbolen gleichsetzen, die der apokalyptischen Verschwörungstheorie nicht ganz abgeneigt sind. Und die sich nun natürlich bestätigt fühlen, von den jüngsten Enthüllungen über Spionage und Überwachung.

"Habt ihr denn die Botschaften nicht gehört?", lachen sie die anderen aus. ",1984', 'Alien', 'Terminator', 'Matrix' - unsere westliche Kultur ist am Ende!" Der Distinktionsgewinn am Rande des Abgrunds.

Trent Reznor, ein unbestrittener Protagonist dieser Welt, war in der zweiten Hälfte der Neunziger dann in der Folterkammer gefangen, die er sich selbst so hübsch eingerichtet hatte: Alkohol und Kokain, Depressionen, soziale Ängste, Schreibblockaden. Als Johnny Cash kurz vor seinem Tod "Hurt" coverte, den letzten Song auf "The Downward Spiral", lag Reznor noch am Boden.

Doch nach dem Drogenentzug kehrte er als Gutmensch zurück. Spielte 2006 seine erste Soloshow bei einem Benefizkonzert für behinderte Kinder, produzierte ein Video für die Tierrechtsorganisation PETA.

Auch bei der eigenen Neuerfindung als zivilgehorsamer Künstler machte er keine halben Sachen. Sein letzter Popentwurf, der Soundtrack zum Facebook-Film "The Social Network", brachte ihm 2011 sogar einen Oscar.

Potpourri aus Kraftwerk-Elektronik und pathetischem Rock

Muss man all das wissen um "Hesitation Marks", das neue Album, zu verstehen? Ähnlich wie bei Depeche Mode, seinen früheren Vorbildern, scheint es auch bei Nine Inch Nails im Jahr 2013 vor allem darum zu gehen, in einem der letzten umsatzträchtigen Sprengel der Popkultur die Spitzenplätze besetzt zu halten.

Reznor, frisch frisiert und mit der abgeklärten Gewissheit, 20 Jahre lang Erfolg mit Regelverstößen gehabt zu haben, kennt sein Millionenpublikum - und liefert ab.

Verpackt in den gleichen rostig-abstrakten Patina-Chic, der inzwischen auch die Bildästheten der Günther-Jauch-Show inspiriert, bietet "Hesitation Marks" das bekannte, klanglich nochmals bombastischere Potpourri aus Kraftwerk-Elektronik und pathetischem Rock. Das Enfant terrible ist zurück im Kinderzimmer, wie der Papa, der ab und zu noch die Modelleisenbahn startet.

Hurra, wir leben noch

Reznors neuer Gesang, wenn auch mit weniger Timbre als früher, zelebriert den alten Weltschmerz. Buchstabiert die depressiven Exegesen neu aus, setzt ein paar Hoffnungsschimmer, wie man sie von einem erwartet, der in den Schmerz gegangen ist, aber genug Gründe für das Leben gefunden hat.

Denn so wie seiner apokalyptischen Gemeinde reicht es auch dem Propheten, das Negative vor allem ästhetisch zu pflegen. Und wenn Reznor noch einmal schreit, dann so: "I survived everything/ I have tried everything" (Ich habe alles überlebt/Ich habe alles ausprobiert"). So heißt es in der Schlüsselzeile von "Everything", einem hinreißenden Stück Katharsis-Pop à la The Cure. Hurra, wir leben noch.

Seit vier Jahren ist Trent Reznor verheiratet, ein Kind gibt es auch. Von der "Downward Spiral" zu "Hesitation Marks" hat sich das Leiden auf die üblichen Fragezeichen reduziert. Wenn man es mal ganz, ganz erwachsen betrachtet, ist das die gute Nachricht.

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© SZ vom 04.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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